Freitag, 30. November 2018

Schatzsuche und Sammeln als immaterielles Kulturerbe


Art. 27 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, UN 1948) gewährleistet jedem Menschen das Recht, frei am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben. Während die AEMR selbst völkerrechtlich nicht verbindlich ist, wird das gleiche Jedermanns-Menschenrecht auf Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit auch durch Art. 15 Abs. 1-3 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR, UN 1966) gewährleistet. Der ICESCR ist seit 1976 in Kraft und ist verbindlich geltendes Völkerrecht. Er wurde 1973 von der Bundesrepublik Deutschland mit expliziter Zustimmung der Länder (BGBl. 1973 II, Nr. 62, 1569-82) und 1978 von der Republik Österreich (BGBl. 590/1978) ratifiziert und ist somit in beiden Staaten auch unmittelbar geltendes nationales Recht.

Im Wesentlichen die gleichen Rechte werden auch durch die jeweiligen Verfassungen dieser beiden Staaten und darüber hinaus auch durch die meisten deutschen Landesverfassungen implizit oder explizit garantiert. Ganz explizit garantieren Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) und Art. 17 und 17a österreichisches Staatsgrundgesetz über die allgemeine Rechte der Staatsbürger (StGG) die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Darüber hinaus enthalten zahlreiche deutsche Landesverfassungen auch explizite Kulturstaatsklauseln, die das Recht der LandesbürgerInnen auf Schutz und Pflege ihrer Kultur und ihres kulturellen Lebens gewährleisten. Schließlich unterliegt sowohl der deutschen als auch der österreichischen Bundesverfassung wenigstens implizit das sogenannte ‚Kulturstaatsprinzip‘. Das bedeutet letztendlich, dass der Staat dafür Sorge zu tragen hat, dass sich seine BürgerInnen (und alle anderen sich auf seinem Territorium befindlichen Menschen) selbstbestimmt kulturell so entfalten können, wie sie das gerne möchten. In Österreich kommen inzwischen durch Ratifikation des Europäischen Rahmenübereinkommens zum Wert des kulturellen Erbes für die Gesellschaft (Faro-Konvention, Europarat 2005a) noch die in diesem internationalen Übereinkommen genauer spezifizierten Rechte zur individuellen und kollektiven Teilhabe am kulturellen Erbe hinzu, die sich aus dem genannten Grund- und Menschenrecht ergeben. Das Grund- und Menschenrecht auf Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit stellt dabei sowohl ein Abwehrrecht als auch ein Anspruchs- bzw. Leistungsrecht dar.

In seiner Funktion als Abwehrrecht (status negativus) schützt es jeden Rechtsträger vor jedem unverhältnismäßigen Eingriff des Staates und seiner Organe in die freie, d.h. vom jeweiligen Individuum selbstbestimmte, Gestaltung seiner kulturellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Handlungen. Dabei ist insbesondere von Bedeutung, dass es als Abwehrrecht jedwede inhaltliche Normierung des Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsbegriffs durch den Staat ausschließt: der Staat hat den Rechtsträgern nicht zu sagen, was die ‚Kultur‘, die ‚Kunst‘ oder auch die ‚Wissenschaft‘ ist, die sie schaffen wollen, sondern Kultur, Kunst und Wissenschaft sind, was die Rechtsträger durch ihre kulturellen, künstlerischen und/oder wissenschaftlichen Handlungen stetig selbst schaffen. Die dadurch entstehende Pluralität – ob nun der verschiedenartigen kulturellen und künstlerischen Handlungen oder Äußerungen oder der wissenschaftlichen Meinungen und Methoden – ist daher vom Staat grundsätzlich einmal nicht zu beschränken. Beschränkungen dieser Freiheit sind nur insoweit möglich, als durch die uneingeschränkte Ausübung dieser Freiheitsrechte die öffentliche Ordnung, gleichermaßen bedeutende Gemeinwohlgüter oder die Rechte bzw. Freiheiten Dritter gefährdet bzw. geschädigt würden (siehe dazu Art. 29 Abs. 2 AEMR).

In seiner Funktion als Leistungsrecht (status positivus) verpflichtet es den Staat wenigstens dazu, die rechtlichen und praktischen Voraussetzungen (z.B. öffentliche Einrichtungen) zu schaffen, die den Rechtsträgern die tatsächliche Ausübung dieser Rechte ermöglichen. Es begründet damit auch jedenfalls bürgerliche Ansprüche auf die Nutzung bestehender staatlicher Einrichtungen und eventuell sogar auf finanzielle Unterstützung durch den Staat (cf. Jarass & Pieroth 2016, 19; Berka 1999, 49). Inwieweit der Staat die zuletzt genannte (finanzielle) Förderung bestimmter Arten und Formen der Kultur, Kunst und/oder Wissenschaft bereitstellen möchte, bleibt ihm dabei (wenigstens weitgehend) im Rahmen des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums selbst überlassen; er darf allerdings jedenfalls bei der Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für das freie Kulturschaffen nicht zwischen unterschiedlichen Arten des Kulturschaffens willkürlich diskriminieren, hat also gleichermaßen geeignete Voraussetzungen für alle Arten des Kulturschaffens zu erzeugen.

Materielles und immaterielles Kulturerbe und der Kulturgüterschutz

Gerade in der Archäologie verstehen wir unter Kulturerbe gewöhnlich insbesondere materielle Sachen: bewegliche archäologische Funde und unbewegliche archäologische Strukturen (Befunde), ob nun im oder über dem Erdboden, die sowohl als Quelle unserer Wissenschaft als auch der historischen Erinnerung und des kollektiven Gedächtnisses von Bedeutung und daher ein schützenswertes Gemeinwohlgut sind. Im traditionellen archäologischen Denkmalverständnis des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind es sogar praktisch ausschließlich diese materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit, die archäologische Kulturgüter sind bzw. sein können.

Im letzten Jahrhundert ist aber auch gerade in der Archäologie und damit auch in der archäologischen Denkmalpflege zu diesem traditionellen, rein materialistischen Verständnis des fachspezifischen Denkmalbegriffs zunehmend auch die Vorstellung hinzugekommen, dass auch die immateriellen Zusammenhänge zwischen den physischen archäologischen Sachen von Bedeutung sind. Spätestens in den letzten 50 Jahren ist sogar die dominante Fachmeinung, dass es in erster Linie die immateriellen Zusammenhänge zwischen den materiellen archäologischen Hinterlassenschaften sind – die ‚archäologischen Kontexte‘, in denen sich die Funde und Befunde (ob im dreidimensionalen Raum oder auch im Verhältnis bzw. ihren sonstigen mannigfaltigen Beziehungen zueinander) befinden – die den materiellen archäologischen Hinterlassenschaften erst wirklich (den Großteil ihrer) Bedeutung verleihen und sie daher schützenswert machen.

Der (unsachgemäß) aus seinem Befund gerissene Fund wird daher heutzutage als (wissenschaftlich und als Quelle des kulturellen Gedächtnisses) nahezu wertlos (Kriesch et al. 1997, 25-6) betrachtet; und im Wesentlichen das Gleiche gilt natürlich auch für den (aufgrund Fundleere und Beziehungslosigkeit zu anderen Befunden) gänzlich kontextlosen Befund. Sind kontextlose Funde „allenfalls noch Antiquitäten“, die „für die Forschung kaum noch zu verwenden und nur noch von geringer Bedeutung“ (ibid., 26) sind, selbst wenn es sich dabei eventuell um z.B. künstlerisch und/oder finanziell wertvolle Objekte (wie z.B. kunstfertig gestaltete Edelmetallfunde) handelt; sind kontextlose Befunde nicht mehr als offenbar durch menschliche Handlungen verursachte Störungen im ansonsten durch natürliche Prozesse entstandenen Bodenaufbau, die sich nicht weiter interpretieren lassen und daher für die Erforschung der und die kollektive Erinnerung an die Vergangenheit aussagen- und damit weitestgehend wertlos bleiben.

Es geht daher schon seit langem dem archäologischen Denkmalschutz in Theorie und Praxis eigentlich nicht (mehr) so sehr um die materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit. Die Erhaltung der materiellen Sachen selbst ist vielmehr (beinahe ausschließlich) Mittel zum Zweck der ohne sie unmöglichen Erhaltung des eigentlich bedeutenden kulturellen Erbes, das (sich) in den immateriellen Beziehungen und Verhältnissen zwischen ihnen (ver)steckt. Worum es in der archäologischen Denkmalpflege wirklich geht, ist also letztendlich der Schutz immateriellen Kulturerbes.

Immaterielles Kulturerbe sind aber selbstverständlich nicht nur die diversen immateriellen Beziehungen zwischen archäologischen Funden und Befunden. Vielmehr wird unter immateriellem Kulturerbe primär ganz anderes verstanden als das archäologische Kulturerbe, das – weil es eben der materiellen Komponente der Funde und Befunde (fast) notwendigerweise bedarf – traditionell dem Bereich des materiellen Kulturerbes zugeordnet wird. Es sind unter immateriellem Kulturerbe – in den Worten des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes„Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume – zu verstehen, die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen. Dieses immaterielle Kulturerbe, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, wird von den Gemeinschaften und Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in ihrer Interaktion mit der Natur und mit ihrer Geschichte fortwährend neu gestaltet und vermittelt ihnen ein Gefühl von Identität und Kontinuität, wodurch die Achtung vor der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität gefördert wird“ (UNESCO 2003). Die soeben genannte UNESCO-Konvention, die sich auch ganz konkret und explizit aus den oben genannten Grund- und Menschenrechten ableitet, verdeutlicht, dass selbstverständlich auch diese kulturellen Bräuche, Praktiken etc. Kulturgüter sind, deren Erhaltung und Pflege dem Wohl der Allgemeinheit dient.

Die Idee der Notwendigkeit des Schutzes, der Erhaltung und Pflege von kulturellen Bräuchen, Ausdrucksformen, Wissens und Fertigkeiten ist allerdings keineswegs etwas Neues: so garantiert z.B. bereits 1867 Art. 19 StGG das „unverletzliche Recht“ eines jeden „Volksstamms“ des habsburgischen Kaiserreichs auf „Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache“. Wenigstens die Sprache einer Gemeinschaft ist natürlich jedenfalls Teil ihres immateriellen Kulturerbes; und unter Pflege der „Nationalität“ war selbstverständlich zur Zeit der Erlassung des StGG auch die ‚Brauchtumspflege‘ gemeint, d.h. wenigstens die Pflege der als typisch für den betreffenden „Volksstamm“ betrachteten, immateriellen kulturspezifischen Praktiken.

Die dem Schutz und der Erhaltung des immateriellen Kulturerbes dienende ‚Brauchtumspflege‘ geht also wenigstens ebenso weit zurück wie die Vorstellung, dass es eine Aufgabe des Staates sein könne, materielle Kulturgüter zu schützen. Es wurde nur die ‚Brauchtumspflege‘ lange Zeit und teilweise bis heute im Unterschied zum Schutz der materiellen Kulturgüter nicht als (und sei es nur auch) Aufgabe des Staates betrachtet, sondern vielmehr als Aufgabe jener Gemeinschaften oder Individuen, die bestimmten Bräuchen, Ausdrucksformen etc. besondere Bedeutung und besonderen kulturellen Wert beimaßen und beimessen und diese daher im Rahmen ihrer Kulturfreiheit auch tatsächlich leben. Wenn überhaupt, unterstützt der Staat (im Sinne der Funktion der Kulturfreiheit als Anspruchsrecht auf staatliche Leistungen) die ‚Brauchtumspflege‘ finanziell, z.B. wenn er den örtlichen Trachtenverein fördert, oder die Blasmusikkapelle, oder auch den alljährlichen Perchtenlauf.

Die Kulturfreiheit als Abwehrrecht zum Schutz immateriellen Kulturerbes

Eine Berufung von Kulturerbegemeinschaften auf die Abwehrrechtsfunktion der Kulturfreiheit zum Schutz eines bestimmten traditionellen Brauchtums vor dessen Ausübung beschwerende oder gar gänzlich verhindernde (staatliche) Beschränkungen ist im letzten Jahrhundert nur eher selten zu beobachten gewesen; auch wenn die Wurzeln dieses Rechts (wie nicht zuletzt Art. 19 StGG zeigt) im Widerstand ethnisch-nationaler Minderheiten gegen die im und vor dem 19. Jh. oftmals versuchte zentralstaatliche Unterdrückung ihrer Eigensprachlichkeit und ihres ‚Nationalbrauchtums‘ zugunsten eines Kulturimperialismus einer ‚nationalen Leitkultur‘ und ‚offiziellen Staatssprache‘ liegen. Die Tatsache, dass eine Berufung auf die Abwehrrechtsfunktion der Kulturfreiheit auch heute noch eher selten zu beobachten ist, liegt in erster Linie daran, dass das kulturelle Selbstbestimmungsrecht ethnischer Minderheiten inzwischen – wenigstens in modernen Demokratien westlicher Prägung – so allgemein anerkannt ist, dass kulturimperialistische Unterdrückungsversuche nur noch selten vorkommen.

Dennoch gibt es auch aus der jüngeren und jüngsten Vergangenheit Beispiele dafür, so nicht zuletzt der gesetzliche Schutz des traditionellen spanischen Stierkampfes als immaterielles Kulturerbe durch einen entsprechenden Beschluss des spanischen Parlaments von 7. November 2013 (z.B. Standard 2013) und den damit in Zusammenhang stehenden Versuch, den Stierkampf als immaterielles Weltkulturerbe anerkennen zu lassen (z.B. Tagesspiegel 2015), um Einschränkungen oder gar Verboten dieser kulturellen Praxis durch progressive Regionalregierungen oder übernationale (z.B. EU-) Tierschutzregelungen entgegenzutreten. Dass die Berufung auf die Abwehrrechtsfunktion der Kulturfreiheit nur im Kontext von gesellschaftlich umstrittenem (immateriellem) Kulturerbe erforderlich ist, versteht sich dabei von selbst: ist eine kulturelle Praxis nicht umstritten, würde wohl niemand versuchen, sie jenen, die sie frei ausüben wollen, zu verbieten. Eine Berufung auf die Abwehrrechtsfunktion der Kulturfreiheit durch jene, die ein derartiges Verbot ihrer kulturellen Praxis verhindern wollen, ist daher normalerweise gar nicht nötig, wenn die betreffende Praxis nicht aus irgendeinem Grund umstritten ist. Kulturerbegemeinschaften bedürfen des Schutzes durch die Kulturfreiheit in ihrer Abwehrrechtsfunktion also meist nur dann, wenn ihre kulturellen Praktiken, ihr Brauchtum und/oder die Form, wie sie ihre Kultur ausdrücken, irgendjemand anderem und insbesondere einer andere Interessen verfolgenden ökonomischen, sozialen oder politischen Machtmehrheit[1] nicht in den Kram passen.

Aufgrund der historischen Entwicklung des normativ-uniformen Volkskulturkonzeptes, das in der Archäologie auch dem lange (und teilweise bis heute) dominanten kulturhistorischen Paradigma (z.B. Hoernes 1892; Kossinna 1911; Childe 1929) zugrunde liegt, und ihrer eigenen Entwicklung aus dem Schutz von ‚Minderheitsvolkskulturen‘ gegen kulturimperialistische Bestrebungen wurde die Kulturfreiheit in ihrer Abwehrrechtsfunktion lange Zeit insbesondere als Schutzinstrument für kulturelle Praktiken ‚indigener‘ ethnischer Minderheiten verstanden. Dies kommt selbst in der Präambel des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes noch deutlich zum Ausdruck, in der von „Gemeinschaften, insbesondere indigenen Gemeinschaften“ (UNESCO 2003) die Rede ist. Versteht man – dem normativen Volkskulturkonzept des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts folgend – die Kultur eines jeden ‚Volkes‘ als intern einheitlich und nach außen (gegenüber anderen ‚Volkskulturen‘) klar abgegrenzt, kann es schließlich nur zu einem ‚Kulturkonflikt‘ zwischen unterschiedlichen Völkern (und deren unterschiedlichen kulturellen Praktiken) kommen, nicht jedoch zu solchen ‚Kulturkonflikten‘ innerhalb ‚eines Volkes‘.

Genau dieser normativ-einheitliche Kulturbegriff wird jedoch heute nicht nur wissenschaftlich abgelehnt, weil er die tatsächlich bestehende kulturelle Variabilität verbirgt bzw. unterdrückt, die sich selbst innerhalb sich selbst als zusammengehörig betrachtender ‚Völker‘ regelhaft beobachten lässt; er widerspricht auch direkt der als individuelles Jedermannsrecht konzipierten Kulturfreiheit des Art. 27 AEMR, des Art. 15 Abs. 1 ICESCR, und den Grundrechten zur freien Persönlichkeitsentfaltung unserer jeweiligen Verfassungen. Es hat sich daher auch das Verständnis davon verändert, was alles immaterielles kulturelles Erbe sein kann, und dass ‚Kulturkonflikte‘ keineswegs nur zwischen unterschiedlichen ethnischen Gemeinschaften, sondern auch innerhalb ein und derselben Gemeinschaft auftreten können. In solchen innergesellschaftlichen ‚Kulturkonflikten‘ kann daher die Kulturfreiheit auch von einer innergesellschaftlichen Untergruppe (oder gar einem Einzelnen) als Abwehrrecht gegen durch andere innergesellschaftliche Akteure bzw. Untergruppen veranlasste staatliche Beschränkungen einer von der Ersteren wertgeschätzten, von den Zweiten hingegen abgelehnten und daher innergesellschaftlich umstrittenen, kulturellen Praktik ins Feld geführt werden.

Das schon oben genannte Beispiel des traditionellen spanischen Stierkampfes ist ein hervorragendes Beispiel für einen derartigen innergesellschaftlichen ‚Kulturkonflikt‘: die nunmehr als immaterielles Kulturerbe geschützte Praxis war und ist nicht eine Praxis einer ‚indigenen ethnischen Minderheit‘, die zugunsten einer ‚einheitlichen nationalen Leitkultur (einer ethnischen Machtmehrheit)‘ unterdrückt werden sollte. Vielmehr treffen hier innerhalb der ‚spanischen Volkskultur‘ die Tierschutzinteressen ‚progressiver‘ Bevölkerungsgruppen auf die Interessen eher ‚konservativer‘ Bevölkerungsgruppen, sich an einem ‚Blutsport‘ vergnügen und dadurch ihrer kulturellen Identität als Spanier Ausdruck verleihen zu können.

Will man den Kulturgüterschutz ernst nehmen, d.h. ihn als Schutz der menschlichen kulturellen Vielfalt und nicht als Mittel zur normativen Festschreibung einer bestimmten, mehrheitlichen ‚nationalen Leitkultur‘ (und damit zur Unterdrückung kultureller Vielfalt) verstehen, muss man also insbesondere jenes immaterielle kulturelle Erbe schützen, das einer innergesellschaftlichen Machtmehrheit ein Dorn im Auge ist. Dies ist selbst dann der Fall, wenn es – wie eben im Fall des spanischen Stierkampfes – durchaus gute Gründe gibt, die betreffende kulturelle Praxis moralisch zu verurteilen; und auch dann, wenn die betreffende Praxis auch tatsächlich nachweislich Schaden an (anderen berechtigten) Interessen (und seien es nur denen von Stieren) anrichtet: ohne die damit verbundene Tierquälerei wäre der spanische Stierkampf nicht mehr die kulturelle Praxis, die er derzeit ist; und betrachtet eine Personengemeinschaft diese traditionelle kulturelle Praxis als ihr kulturelles Erbe, das sie in dieser tierquälerischen Form weitergeben (und nicht von sich aus verändern und weniger tierquälerisch machen) will, muss man als Kulturgüterschützer die tierquälerische Praxis schützen, egal was die Tierschützer (und auch der Tierschützer in einem selbst) davon halten. Ist man also selbst sowohl Kulturgüter- als auch Tierschützer (eine nicht seltene Kombination von Interessen), steht man vor einem ethischen Dilemma.

Schatzsuche und Sammeln als traditionelle kulturelle Praktiken

Vor einem vielleicht noch größeren und schwieriger zu lösenden ethischen Dilemma sieht sich der archäologische Kulturgutschützer, wenn es um die Schatzsuche nach und das Sammeln von (archäologischen) Kulturgütern geht. Denn dass es sich beim Sammeln und bei der Schatzsuche um tief verwurzelte menschliche kulturelle Praktiken handelt, die auch aus archäologischer und damit auch aus archäologisch-denkmalpflegerischer Sicht durchaus relevant sind, sollte sich von selbst verstehen.[2]

Selbst ohne die Tatsache zu bemühen, dass am Beginn der menschlichen Kulturentwicklung Jäger- und Sammlergesellschaften stehen, in denen das Sammeln von subsistenzökonomisch erforderlichen Gütern (= Wertsachen) ganz grundlegende Überlebensnotwendigkeit war, zeigen archäologische ebenso wie historische und literarische Quellen in aller Deutlichkeit, dass das Sammeln und Schatzsuchen eine enorm lange Tradition als kulturelle Praxis haben. So weisen zum Beispiel in manchen Zeiten und Räumen eine Mehrheit aller angelegten Gräber bei moderner archäologischer Ausgrabung Spuren einer zeitnahe zur Bestattung erfolgten Wiederentnahme von Grabbeigaben auf. Diese Wiederentnahme kann sowohl Teil eines komplexeren Bestattungsritus, als auch eines Ahnenverehrungskultes, als auch durch ökonomisches Profitstreben motivierter Grabraub etc. (oder auch eine Kombination davon) gewesen sein. Was auch immer aber im jeweiligen Einzelfall der Grund für die Wiederöffnung des Grabes und die Entnahme von beweglichen Kulturgütern war, in einem bedeutenden Anteil der Fälle haben wir sicherlich die Spuren von Schatzsuchen in einem oder anderem Sinn vor uns: der gesuchte Schatz mag der materiell wertvolle Gegenstand gewesen sein, oder der primär ideell wertvolle ‚magische‘ Gegenstand, der aus dem Grab eines berühmten Helden oder vergöttlichten Ahnens aus anderen als wirtschaftlichen Gründen entnommen werden sollte, aber als wertvoll wurde der entnommene Gegenstand jedenfalls betrachtet.

Auch das Sammeln von ‚Schätzen‘, anfänglich vielleicht noch hauptsächlich aufgrund ihres wirtschaftlichen, bald aber wenigstens auch aufgrund ihres Wertes als Materialisierung von sozialem Kapital, hat eine große und lange Tradition. Private Sammlungen bilden nicht nur den ursprünglichen Kern vieler moderner staatlicher Museumssammlungen (so z.B. NHM Wien, British Museum, etc.), sondern viele historische Wissenschaften, nicht zuletzt die Archäologie selbst, entwickeln sich zu guten Teilen in diesen Sammlungen aus der Notwendigkeit, die sich dort anhäufenden Massen von ‚Kulturschätzen‘ in irgendeine sinnvolle Ordnung zu bringen. Und natürlich wurden von den diversen Sammlern auch professionelle Schatzsucher „zur Aufsuchung eines Schatzes gedungen“, wie es vom österreichischen Gesetzgeber 1812 in § 401 Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) ausgedrückt wird. Aus solchen professionellen ‚Schatzgräbern‘, die oft anfänglich noch gänzlich auf eigene Rechnung arbeiten, entwickelt sich dann auch – wenigstens teilweise – die professionelle Feldarchäologie.

Das Sammeln von und die Suche nach Schätzen der Vergangenheit sind und bleiben dann vor allem auch auf lokaler Ebene von besonderer Bedeutung: kommt es in den staatlichen Museen und anderen wissenschaftlichen Kulturgüterschutzeinrichtungen, insbesondere im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu einer nahvollständigen Professionalisierung des Personals, sind nahezu alle lokalen ‚Heimatmuseen‘ nicht nur aus der privaten Sammeltätigkeit und Schatzsuchleidenschaft einiger Weniger entstanden – man denke hier nur z.B. in Niederösterreich an das Höbarth- und das Krahuletz-Museum – sondern ihre Sammlungen werden bis heute vorwiegend von interessierten Laien betreut, die dann ihrerseits oft auch auf die eine oder andere Weise selbst sammlerisch tätig sind. Das ist für solche Lokalmuseen sogar oft notwendig, um überhaupt Ausstellungsstücke zu bekommen; denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein kleines Heimatmuseum irgendwo am Ende der Welt die Funde einer professionellen Ausgrabung überlassen bekommt, ist nahezu gleich Null. Archäologische Ethikkodizes wie jener von WSVA und DGUF (2011) fordern sogar explizit, dass Funde auch dann nicht ‚ungeeigneten‘ Sammlungen – als welche aus fachlicher Sicht viele, wenn nicht sogar die meisten Heimatmuseen betrachtet werden – überlassen werden dürfen, selbst wenn ein deutlicher Lokalbezug besteht. Vielmehr verschwindet die überwältigende Mehrheit der professionell ausgegrabenen Archäologie, egal wo sie gefunden wurde, in staatlichen Archiven („…am besten in fachlich ausgewiesenen Museen oder in Landesdenkmalämtern“; DGUF 2011, 3), in den meisten Fällen auf Nimmerwiedersehen, vor allem für die lokale Bevölkerung, die von all dem oft nicht einmal erfährt.

Natürlich haben sich Schatzsuch- ebenso wie Sammlungspraktiken über die Jahrhunderte hinweg oft nicht unmaßgeblich geändert. Haben früher Adelige ebenso wie neureiche Industrielle primär die langen Korridore (die Galerien) und Stiegenhäuser ebenso wie die eine oder andere Wunderkammer mit mehr oder minder wild durcheinandergeworfenen Kulturgütern dekoriert, sammeln heute Mitglieder vieler verschiedener Bevölkerungsschichten mehr oder minder systematisch bestimmte Arten von Objekten, archivieren sie teilweise mehr oder minder akribisch, und stellen sie teilweise auch in mehr oder minder museumsähnlicher Form irgendwo in ihren Privaträumlichkeiten zur Schau oder überlassen sie teilweise oder vollständig ihrem örtlichen Heimatmuseum (oder planen das zumindest). Haben Schatzgräber früher ihre Tätigkeiten hauptsächlich auf noch obertägig erkennbare archäologische Fundstätten (wie Ruinen-, Grabhügelfelder und Bodenflächen, auf denen größere Fundmengen ausgeackert wurden) konzentriert oder sich auf ihre Wünschelrute verlassen, stehen heute insbesondere Metallsuchgeräte als Werkzeuge zur Lokalisierung potentieller ‚historischer Schätze‘ im Einsatz.

Derartige Veränderungen sind aber nichts Ungewöhnliches, sondern charakteristisch für jede gelebte kulturelle Praxis: gelebte Kultur wird stets von einer Generation an die nächste weitergegeben und dabei fortwährend von den sie Lebenden in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und in ihrer Interaktion mit der Natur und mit ihrer Geschichte neugestaltet und bleibt daher auch nicht dauerhaft gleich, sondern unterliegt kulturellem Wandel. Solche Wandlungsprozesse stellen daher auch keineswegs einen Abbruch älterer und deren Ersetzung durch neue kulturelle Praktiken dar, sondern sind Resultat des sozialen Tradierungsprozesses kultureller Praxis, ohne den das kulturelle Leben der jeweiligen Gemeinschaft zum Erliegen käme.

Schatzsuchen und Sammeln als immaterielles Kulturerbe

Sind aber die Schatzsuche und das Sammeln von Kulturgütern traditionelle kulturelle Praktiken einer bestimmten Gesellschaft oder auch nur einer bestimmten Untergruppe einer Gesellschaft, die „von einer Generation an die nächste weitergegeben“ und „in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in ihrer Interaktion mit der Natur und mit ihrer Geschichte fortwährend neu gestaltet“ werden (UNESCO 2003), kommt man nicht umhin sich die Frage zu stellen, ob es sich dabei nicht eventuell um immaterielles Kulturerbe handeln könnte, das für sich betrachtet ebenso schützenswert ist wie jedes beliebige andere Kulturerbe auch. Handelt es sich dabei um „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume – […], die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen“, das ihnen „ein Gefühl von Identität und Kontinuität“ vermittelt, dann sind die Schatzsuche und das Sammeln tatsächlich traditionelle kulturelle Praktiken, die Teil „der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität“ (UNESCO 2003) darstellen, die zu achten und zu fördern ist. Mehr noch, die Schatzsuche und das Sammeln von Kulturgütern wären Teil eben jenes kulturellen Lebens der Gemeinschaft, an dem frei teilzuhaben im Sinne des Art 27 Abs. 1 AEMR und Art. 15 Abs. 1 ICESCR ein allgemeines Menschenrecht ist.

Dass es sich bei sowohl der Schatzsuche als auch dem Sammeln von Kulturgütern um traditionelle Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten sowie dazugehörige Instrumente (wie z.B. heute Metallsuchgeräte), Objekte und Artefakte (besuchen Sie auch nur einmal einen Metallsucher-Shop im Internet, um zu sehen, was es da so alles an ‚hobbyspezifischen‘ Dingen und ‚szeneeigener‘ Fachliteratur zu kaufen gibt, siehe z.B. https://www.abenteuer-schatzsuche.de/ [10.11.2018]) und natürlich auch kulturelle Räume (wie die Vitrinen in Privaträumlichkeiten, in denen wenigstens Teile der Privatsammlungen von passionierten Sammlern ausgestellt werden) handelt, kann wohl als völlig unstrittig betrachtet werden: wir ArchäologInnen und archäologischen Denkmalpfleger kennen alle Beispiele dafür in ausreichender Menge aus eigener Anschauung. Sollte es dennoch jemand ernsthaft bezweifeln wollen, lässt sich anhand einschlägiger Fachliteratur wie Handbüchern (siehe z.B. Gesink 2019), Fachzeitschriften (z.B. Abenteuer Geschichte [10.11.2018]; Jahresschrift Netzwerk Geschichte Österreichs [10.11.2018]) und anderen Medien wie Internet-Diskussionsforen und Facebook-Gruppen (z.B. http://www.sondengaenger.at/ [10.11.2018]) leicht nachvollziehen, dass dem tatsächlich so ist.

Die gleichen Evidenzen demonstrieren auch ebenso deutlich, dass die Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen, die Schatzsuche und Sammeln praktizieren, diese Praktiken als ihr Kulturerbe betrachten, das sie auch nachfolgenden Generationen tradieren wollen und das ganz wesentlich für ihre Identitätsbildung und ihr Kontinuitätsempfinden ist. Lehrbücher, wie man die betreffende kulturelle Praxis ‚ordentlich‘ ausübt, werden nur geschrieben, wenn wenigstens einer aus einer früheren Generation von Praktikanten dieser kulturellen Ausdrucksform Spezialwissen über diese und damit auch die kulturelle Praxis selbst an eine nachfolgende Generation tradieren will; und dass es manche solche Bücher – wie z.B. das zitierte Beispiel (Gesink 2019) – bis wenigstens zu einer 4. Auflage schaffen, zeigt auch, dass es genug Personen nachfolgender Generationen gibt, die diese Praxis auch tradiert bekommen wollen. Dass die Sammler von Kulturschätzen ihre Sammlungen als (ihr) kulturelles Erbe betrachten, das die meisten davon auch tatsächlich an nachfolgende Generationen (idealerweise in unveränderter Form und Zusammensetzung) tradieren wollen, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Beides ist deutliches Zeichen für ein Streben nach Kontinuität, sowohl rückwärtsgerichteter Kontinuität in die (nähere oder ferne) Vergangenheit als auch vorwärts gerichteter Kontinuität in die (erhoffte) Zukunft.

Die Tatsache, dass die Intention Vieler, ‚ihre‘ Sammlung an nachfolgende Generationen zu ‚verkulturerben‘, oft aufgrund des Desinteresses ihrer erbrechtlichen Nachfolger am Erwerb und der Erhaltung dieses Kulturerbes unverwirklicht bleibt, spielt dabei übrigens keinerlei Rolle in Bezug auf die Frage, ob die Sammelpraxis immaterielles Kulturerbe ist: so manche Eltern sind darüber schwer enttäuscht, dass sich ihre Kinder als moderne urbane Weltbürger verstehen und das von ihren Eltern geliebte und gepflegte Volksbrauchtum als peinlichen, provinziell-rückständigen Mist verabscheuen, ohne dass dadurch der Wert des elterlichen Volksbrauchtums als immaterielles Kulturerbe geschmälert wird. Von wem auf wen eine kulturelle Praxis tradiert wird, ja ob es überhaupt eine nachfolgende Generation gibt, die eine bestimmte traditionelle kulturelle Praxis in ihr eigenes Kulturleben integriert, ist nur relevant dafür, ob dieses bestimmte immaterielle kulturelle Erbe mit Ableben der letzten Angehörigen der es derzeitig lebenden Generation – sozusagen den ‚letzten Mohikanern‘ – ausstirbt oder für eine weitere Generation (die auch nicht unbedingt die unmittelbar folgende sein muss) Teil des menschlichen Kulturlebens und der kulturellen Vielfalt bleibt.

Die Bedeutung des immateriellen (und materiellen) Kulturerbes der Schatzsuche und des Sammelns für die Mitglieder der Schatzsucher- und Sammlergemeinschaften für ihre individuelle als auch kollektive Identitätsbildung ist sogar noch offensichtlicher. Nicht nur gibt es diverse Orte, ob im realen oder virtuellen Raum, in dem sich Angehörige dieser Gemeinschaften (mehr oder minder regelmäßig) treffen, sondern davon sind auch ‚Außenstehende‘ oft genug a priori ausgeschlossen: ein Grund, weshalb ich bei den oben aufgelisteten Beispielen keine der zahlreichen deutschsprachigen Schatzsucher-Facebook-Diskussionsgruppen angeführt habe, ist der, dass alle derartigen Gruppen, in denen ich Mitglied bin (deutlich über 10), geschlossene Gruppen sind. Diese Gruppen sind daher ohne Einladung durch ein Mitglied überhaupt nicht zugänglich und oft bei Nutzung der Suchfunktion von Facebook für Nichtmitglieder nicht einmal sichtbar. Die Mitglieder der ‚Schatzsucher-Gemeinschaft‘ verstehen sich also, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, als zusammengehörige, nach außen hin gegenüber anderen abgeschlossene Gruppe, die ihre Identität nicht zuletzt durch ihr gemeinsames immaterielles Kulturerbe – eben die Schatzsuche – generiert bzw. gewinnt.

Mehr noch, gerade die Gruppe der Schatzsucher gewinnt ihre Identität nicht nur aus ihrem eigenen immateriellen Kulturerbe, der Schatzsuche, sondern auch aus der Konkurrenz mit und dem Gegensatz zu ‚den ArchäologInnen‘. Insbesondere in Diskussionen im Internet lässt sich dabei die typische Polarisierung zwischen einer ‚Wir‘- und einer ‚Die anderen‘-Gruppe beobachten; und zwar keineswegs nur auf Seiten der SchatzsucherInnen und SammlerInnen (siehe dazu auch z.B. Jung 2010, 258-292), sondern wenigstens ebenso stark unter den ‚professionellen‘ ArchäologInnen. SchatzsucherInnen und ‚professionelle‘ ArchäologInnen definieren sich selbst und ihre soziale und kulturelle Gruppenzugehörigkeit also nicht zuletzt dadurch, dass sie zu den kulturellen Handlungspraktiken, die ‚die Schatzsuche‘ kennzeichnen, eine unterschiedliche und in manchen Belangen diametral entgegengesetzte Einstellung haben.

Die Auseinandersetzung mit ihrer „Umwelt“ und die Interaktion mit der „Geschichte“ von ‚laienhafter‘ und ‚archäologisch-wissenschaftlicher‘ Schatzsuch- und Sammeltätigkeit – suchen und sammeln Laien in erster Linie in ungebrochener Tradition seit dem frühen Schatzsuch- und Sammlerwesen wertvolle materielle Gegenstände, suchen und sammeln ‚professionelle‘ ArchäologInnen heutzutage in erster Linie die schon weiter oben genannten wertvollen Informationen, die in den immateriellen Beziehungen zwischen den materiellen Gegenständen gespeichert sind – vermittelt also beiden Gruppen „ein Gefühl von Identität und Kontinuität“, das sowohl für ihre Entstehung als auch ihr Fortleben als konkrete, fassbare Gemeinschaften oder Gruppen von gleichgesinnten Menschen absolut essentiell und unabdingbar ist. Die Schatzsuche und das Sammeln sind also tatsächlich traditionelle kulturelle Praktiken, die Teil „der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität“ (UNESCO 2003) darstellen, die als immaterielles Kulturgut zu achten und zu fördern sind. Mehr noch, sie sind auch tatsächlich Teil eben jenes kulturellen Lebens der Gemeinschaft, an dem frei teilzuhaben das durch Art 27 Abs. 1 AEMR und Art. 15 Abs. 1 ICESCR garantierte allgemeine Menschenrecht ist.

Welche Kulturgüter sind schützenswerter?

Nehmen wir also nicht nur den materiellen, sondern auch den immateriellen Kulturgüterschutz ernst, haben wir hier ein ernsthaftes Problem vor uns; weil wir dadurch vor einem grundlegenden Dilemma stehen: um die materiellen Kulturgüter – die archäologischen Funde und Befunde im Boden – vor ihrer unsachgemäßen Bergung aus dem oder Zerstörung im Boden durch laienhaft agierende Schatzsucher bewahren zu können, müsste man eben jene traditionellen Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten beschränken bzw. verbieten (d.h. in ‚tote‘ Kultur umwandeln), welche die Schatzsuche und die damit verbundene Sammeltätigkeit von materiellen Kulturgütern ausmachen. Man müsste also immaterielles Kulturerbe vernichten, um das materielle Kulturerbe zu retten. Um hingegen das immaterielle Kulturerbe der Schatzsuche und des Sammelns zu schützen und zu fördern muss man akzeptieren, dass dadurch unweigerlich (wenigstens manche) materielle Kulturgüter, die man eventuell auch schützen möchte, durch unsachgemäß von Laien durchgeführte Bodeneingriffe zerstört oder maßgeblich verändert werden. Man muss also der Vernichtung von materiellem Kulturerbe zusehen, um das immaterielle Kulturerbe zu retten.

Natürlich kann man sich als archäologischer Denkmalpfleger an dieser Stelle auf die traditionelle Position zurückziehen, dass die Aufgabe der archäologischen Denkmalpflege der Schutz der materiellen (archäologischen) Hinterlassenschaften der Vergangenheit als Quellen der wissenschaftlichen Erforschung der und der kollektiven Erinnerung an diese Vergangenheit durch gegenwärtige und künftige Generationen ist; der Schutz des immateriellen Kulturerbes der Schatzsuche und der privaten Sammeltätigkeit hingegen das Problem einer anderen Art von Kulturgüterschützern (eventuell aus dem Bereich der ‚Volkskunde‘?), die sich um dieses Problem dann so kümmern sollen, wie sie es für richtig halten. Das wäre allerdings nicht mehr als eine billige Ausrede, um die kulturgutschädlichen Konsequenzen des eigenen (denkmalschützerischen) Handelns ausblenden zu können: man opfert damit den Kulturgüterschutz den fachlichen Eigeninteressen der Archäologie. Das wäre etwa so, als ob der Baudenkmalpfleger sagen würde, dass ihn die archäologische Denkmalpflege nichts angeht und er daher auch ungeniert ein archäologisches Denkmal wegbaggern darf, solange das der Erhaltung eines Baudenkmals dient, weil die archäologische Denkmalpflege ja nicht sein Problem als Baudenkmalpfleger sei. Außerdem würde damit das Problem, wie man mit dem Dilemma umgeht, dadurch nur in den Bereich der Zusammen- oder Gegeneinander-Arbeit von verschiedenen Wissenschaften mit staatlich autorisierten Fachinstitutionen verlagert, womit der grundsätzliche Konflikt bestehen bleibt, der weiterhin gelöst werden muss. Kulturdenkmalpflegerisch wäre eine derartige, fachpartikularistische Sichtweise des Denkmalschutzes absolut verantwortungslos und ist daher abzulehnen.

Ebenso wenig kann sich der archäologische Denkmalpfleger darauf berufen, dass der Staat zwar archäologische Denkmale, aber nicht das immaterielle Kulturerbe schützen will, weil er in seinen Denkmalschutzgesetzen keine entsprechenden Vorkehrungen für den Schutz des Letzteren getroffen hat. Zwar stimmt es natürlich, dass die derzeitigen Denkmalschutzgesetze den immateriellen Kulturgüterschutz kaum (oder sogar überhaupt nicht) erwähnen; aber das liegt nicht daran, dass der Staat die immaterielle Kultur seiner BürgerInnen nicht schützen will: deren Schutz ist nämlich schon in den völkerrechtlichen Verträgen zu den kulturellen Menschenrechten und den diesen entsprechenden Grundrechtsbestimmungen unserer Bundesverfassungen vorgesehen. Ob nun im Wege des allgemeinen Schutzes der Menschenwürde und der freien Persönlichkeitsentfaltung, der Kulturstaatsklauseln der deutschen Landesverfassungen, oder spezifischeren Bestimmungen wie der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit; die lebende Kultur ist schon vielfach rechtlich hochrangig geschützt und muss daher nicht in Denkmalschutzgesetzen noch einmal extra geschützt werden. Vielmehr liegt hier ein „Insichkonflikt“ (Krischok 2016, 135) zwischen einer Staatszielbestimmung (Schutz und Förderung des selbstbestimmten kulturellen Lebens der BürgerInnen) und zum Erreichen dieses Zieles geschaffenen Gesetzen (den Denkmalschutzgesetzen) vor, der – auch in der archäologischen Denkmalpflege – nicht einfach ignoriert werden kann, sondern gelöst werden muss.

Damit kommt man letztendlich unweigerlich bei der Frage an, welche Kulturgüter – die (überwiegend) immateriellen der lebenden oder die (eher) materiellen der toten Kultur – wertvoller und daher schützenswerter sind als die jeweils anderen. Diese Frage kann man nun aber auf zwei sehr fundamental unterschiedliche Arten beantworten, gleichgültig ob man sie jeweils im konkreten Einzelfall oder allgemein beantworten möchte. Wie man sie beantwortet, hängt dabei in erster Linie davon ab, von welchem Kulturbegriff man ausgehen will.

Der normative Kulturbegriff des 19. und frühen 20. Jh. und ‚wertvolle‘ Kulturgüter

Die erste Möglichkeit diese Frage zu beantworten ist im Wege des Rückgriffs auf einen normativen (Hoch- bzw. National-) Kulturbegriff (Reckwitz 2004, 6). Dieser (generalisierend) wertende und auch präskriptive (vorschreibende) Kulturbegriff war insbesondere für die Entwicklung des Kulturbegriffs im 19. Jahrhundert ausschlaggebend und beruht letztendlich auf einer Auszeichnung bzw. Hervorhebung bestimmter (zumeist angeblich ‚nationalspezifischer‘) kultureller Phänomene, Objekte und Praktiken, die (angeblich oder tatsächlich) in einer Gesellschaft hochgeschätzt und durch Traditionsbildung bewahrt werden. Was die für einen bestimmten Nationalstaat und dessen Selbstbild ‚besonders bedeutende‘ und daher zu schützende Kultur – wenn man so will, die staatlich autorisierte ‚nationale Hochkultur‘ – ist, ist dabei selbstverständlich von den politischen Organen des betreffenden Staates (oder ExpertInnen, an die diese politischen Organe die Auswahlaufgabe delegieren) vorzugeben; Vorgaben, die dann von den staatlichen Verwaltungsorganen zum Wohle des Staatsganzen durchzusetzen sind, erforderlichenfalls auch gegen den Willen der Staatsangehörigen des betreffenden Staates. Alles, was diesem normativen Kulturbegriff nicht entspricht, aber auch Ergebnis menschlichen kulturellen Handelns ist, ist folglich unter diesem Kulturbegriffsverständnis maximal eine (minderwertige) ‚Subkultur‘, die keines staatlichen Schutzes bedarf, oder sogar – wenn sie den Vorgaben des staatlich autorisierten Kulturbegriffsverständnisses widerspricht – eine ‚Unkultur‘, die ausgerottet werden muss, weil sie die Staatshochkultur gefährdet.

Es ist dies der Kulturbegriff, der auch der frühen archäologischen Wissenschaft und insbesondere der frühen deutschsprachigen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft und auch Kossinnas bekannter Hypothese „Scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern und Volksstämmen“ (Kossinna 1911, 3) zugrunde liegt: ein bestimmtes ‚Volk‘ hat eine in sich uniforme ‚Kultur‘, von der es – insbesondere in ihren frühen, ‚reinen‘ Urzuständen in der fernen Vergangenheit – keinerlei individuelle Abweichungen gibt und geben darf. Daher ist ja, um das andere Hauptwerk Kossinnas auch noch zu zitieren, Die deutsche Vorgeschichte eine hervorragend nationale Wissenschaft (Kossinna 1912): sie gestattet es der schon lange diskreditierten Vorstellung Kossinnas zufolge das ‚deutsche Volk‘ bis zu seinen ursprünglichen, reinen Anfängen zurückzuverfolgen und damit das nationale Zusammengehörigkeitsempfinden des gegenwärtigen deutschen Volkes zu stärken.

Geht man von einem derartigen, normativen Kulturbegriff aus – wie es die staatliche Denkmalpflege und insbesondere auch die archäologische Denkmalpflege seit ihren Anfängen tut, die bekanntermaßen im Zeitalter der Entstehung der modernen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert zu suchen sind – versteht sich weitgehend von selbst, dass die (anfänglich insbesondere auch ästhetisch-künstlerisch) wertvollen ‚Antiken‘, d.h. die materiellen Hinterlassenschaften der (insbesondere glorreichen) Vergangenheit als hochwertige Kulturgüter zu betrachten sind.  Das zeigt sich nicht zuletzt dann auch an denkmalpflegerischen Wertungen, wie z.B. der jüngst kolportierten, dass ein Massengrab von nach der Völkerschlacht von Leipzig 1813 bei Mainz an Typhus verstorbenen napoleonischen Soldaten „nicht mit Römerfunden zu vergleichen“ sei und daher auch denkmalpflegerisch anders behandelt werde (Wenda 2018).

Aus geschichtswissenschaftlicher bzw. archäologischer Sicht lässt sich eine derartige Aussage der staatlichen Denkmalpflege überhaupt nicht nachvollziehen: die Völkerschlacht von Leipzig war sicherlich historisch ein weitaus bedeutenderes Ereignis als vieles, was während der römischen Besiedlung des heutigen Deutschlands vorgefallen ist; und aus archäologischer Sicht sind die Überreste zahlreicher in einem bekannten Kontext umgekommener Soldaten aus den napoleonischen Kriegen wenigstens ebenso bedeutend, wenn nicht weitaus bedeutender, als beliebige Bestattungen aus einem beliebigen provinzialrömischen Gräberfeld. Erklärbar ist eine solche denkmalpflegerische Bewertung der relativen Bedeutung eines napoleonischen Massengrabes und beliebiger römischer Funde nur unter der Voraussetzung eines normativen Kulturbegriffs, der – nicht zuletzt aufgrund des (mehr oder minder engen) Bezuges Deutschlands im Wege des römischen Kaiserreichs deutscher Nation zum Imperium Romanum – der ‚antiken römischen Hochkultur‘ einen inhärent höheren Wert beimisst als französischen Kriegsopfern aus dem 19. Jahrhunderts. Die (provinzial-) römische Kultur wird als Teil der historischen Wurzeln des modernen Deutschlands gesehen, während die napoleonischen Franzosen eine ‚fremde Macht‘ waren, die ihre ‚fremde Kultur‘ dem deutschen Volk aufzwingen wollten und damit die kulturelle Eigenentwicklung des deutschen Volkes gefährdeten, und das bedingt die unterschiedliche Bewertung der Bedeutung ihrer jeweiligen Hinterlassenschaften.

Die aus privatem Interesse oder auch bloßem Vergnügen betriebene ‚Schatzsuche‘ und das ‚private‘ Sammeln archäologischer Kulturgüter durch ‚gewöhnliche‘ BürgerInnen hingegen ist aus dem Blickwinkel eines normativen Kulturbegriffs eine typische ‚Unkultur‘, die es möglichst auszurotten gilt, weil sie den Schutz und die Erhaltung der ‚bedeutenden Schätze der Vergangenheit‘ gefährdet. Schließlich fehlt unter dem mit dem normativen Kulturbegriff integral verbundenen autoritär-hierarchischen Gesellschaftsmodell des 19. Jahrhunderts (siehe dazu auch schon Karl 2016, 2) den nicht hinreichend gebildeten, ‚gewöhnlichen Menschen‘[3] das ausreichende Verständnis dafür, den wahren, inneren Wert der ‚besonders bedeutenden‘ Kulturgüter überhaupt zu erkennen. Um Georg Dehios Worte zu benutzen: „In alle Schichten muß das Gefühl eindringen, daß das Volk, das viele und alte Denkmäler besitzt, ein vornehmes Volk ist. Wenn das Volk erst darüber unterrichtet ist, worum es sich handelt, mag es, wo Gegenwart und Vergangenheit in Konflikt kommen, die Wahl und Verantwortung übernehmen.“ (Dehio 1905, 274). Solange ‚das Volk‘ von der staatlichen Denkmalpflege, welche die Bedeutung von Denkmalen überhaupt erst richtig erkennen kann, nicht ausreichend belehrt wurde, was nun für die normativ vorgegebene, uniforme Nationalkultur wirklich wichtig ist, muss man es aus diesem Blickwinkel von jedweder Wahl ausschließen und darf ihm keinerlei Selbstverantwortung überlassen; und das macht notwendigerweise die private ‚Schatzsuche‘ und das damit verbundene, selbstbestimmte Sammeln archäologischer Kulturgüter durch per Definition nicht ausreichend gebildete Laien zum denkmalpflegerischen Anathema.

Vereinfacht gesagt, geht es bei Voraussetzung eines normativen Kulturbegriffs der staatlichen Denkmalpflege darum, die generelle Einheitlichkeit der Nationalkultur zu schützen, die für die Nationalstaatsfiktion des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts besonders bedeutend ist. D.h. es geht dem Nationalstaat und seinen (denkmalpflegerischen) Organen unter dieser Voraussetzung letztendlich darum, die innerstaatliche kulturelle Vielfalt möglichst zu unterdrücken und, wo es sie doch gibt oder sie zu entstehen droht, möglichst zu bekämpfen: eine ‚andere‘ Kultur darf es nur in anderen Staaten geben, nicht im eigenen.

Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff der Gegenwart und ‚wertvolle‘ Kulturgüter

Charakteristisch für unsere Gegenwart ist jedoch nicht mehr so sehr der normative Kulturbegriff des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der – insbesondere in den Kulturwissenschaften – seit spätestens der Mitte des 20. Jahrhunderts als weitgehend überwunden gilt, sondern ein viel weiter gefasster, totalitätsorientierter, deskriptiver, insbesondere stärker bedeutungs- und wissensorientierter Kulturbegriff (Reckwitz 2004). Ein gutes Beispiel für diesen modernen Kulturbegriff ist z.B. die Definition von Peter M. Hejl, der unter dem Begriff Kultur „die Summe jenes Wissens und jener Fertigkeiten, die durch soziales Lernen weitergegeben werden, sowie den Prozess der Weitergabe selber“ (Hejl 2001, 24) versteht. Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung drückt denselben Grundgedanken hingegen wie folgt aus: „Demzufolge wird Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefasst, der sich in Symbolsystemen materialisiert. Einer solchen Begriffsbestimmung zufolge sind nicht nur materiale (z.B. künstlerische) Ausdrucksformen zum Bereich der Kultur zu zählen, sondern auch die sozialen Institutionen und mentalen Dispositionen, die die Hervorbringung solcher Artefakte überhaupt erst ermöglichen.“ (Nünning 2009).

Es ist auch genau diese Art der Definition des Kulturbegriffs, die den modernen internationalen Konventionen wie jener der UNESCO (2003) zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes und auch der Faro-Konvention (Europarat 2005a) zugrunde liegen; die sich letztendlich direkt aus den in der AEMR (UN 1948) und im ICESCR (UN 1966) garantierten kulturellen Menschenrechten ableiten. Es geht diesen Konventionen daher auch – schließlich geht es bei den Menschenrechten letztendlich primär um den Schutz der individuellen Interessen des einzelnen Menschen und beliebiger Menschengruppen vor willkürlichen staatlichen Eingriffen in deren Selbstbestimmung – gerade im Gegensatz zum normativen Kulturbegriff und dessen – letztendlich immer willkürlichen – nationalstaatlichen Verwendung nicht um eine Vereinheitlichung des kulturellen Lebens der Staatsgemeinschaft und ihrer Angehörigen, sondern um den Schutz, die Achtung und Förderung der kulturellen Vielfalt, nicht nur der zwischen-, sondern insbesondere auch der innerstaatlichen. Daher verweist das UNESCO-Übereinkommen auch ganz klar darauf, dass keineswegs nur staatlich autorisierte kulturelle Erscheinungen als immaterielles Kulturerbe zu verstehen seien, sondern vielmehr alle kulturellen Praktiken, die beliebige „Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen“ (UNESCO 2003; Hervorhebung: RK).

Das bedeutet letztendlich, dass die Kulturfreiheit eben eine Individualfreiheit ist: jeder darf für sich selbst entscheiden, welche kulturellen Handlungen er setzen und welche Bräuche, welches Wissen, welche kulturellen Ausdrucksformen etc. er als sein individuelles Kulturerbe betrachten möchte. Als solche ist die Kulturfreiheit natürlich dennoch nicht gänzlich unbeschränkt und kann durch den Staat auch durchaus beschränkt werden; allerdings nur soweit das „mit dem Anspruch gegenseitiger Achtung von Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen sowie der nachhaltigen Entwicklung“ (UNESCO 2003; Hervorhebung: RK) vereinbar ist. Das entspricht wiederum auch den Zielsetzungen der derzeitigen Bundesverfassungen in Deutschland und Österreich, insbesondere der des Art. 1 und 2 Abs. 1 des deutschen GG:

„Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Artikel 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ (GG).

Dabei ist besonders zu bedenken, dass die Bestimmung des Art. 1 GG und insbesondere der Schutz der Menschenwürde, die sich aus den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ergibt, der „oberste Verfassungswert“ bzw. die „wichtigste Wertentscheidung“ (Jarass & Pieroth 2016, 41) des GG ist; wodurch verdeutlicht wird, „dass in der Ordnung des GG zuerst der Mensch kommt und erst dann der Staat“ (Jarass & Pieroth 2016, 40). Art. 2 Abs. 1 hingegen schützt die sich mittelbar aus der Menschenrechtsachtungsgarantie des Art. 1 ergebende allgemeine Handlungsfreiheit, beschränkt diese aber gleichzeitig auch insoweit, als dieser Handlungsfreiheit die Verletzung (gleichwertiger) Rechte Dritter, der verfassungsmäßigen Ordnung und des Sittengesetzes als Grenzen gesetzt werden. Das entspricht im Wesentlichen der sich in Art. 2 Abs. 1 letzter Satz des UNESCO-Übereinkommens findenden Einschränkung des immateriellen Kulturerbes auf solches, das im Einklang mit bestehenden internationalen Menschenrechtsübereinkünften, der schon oben genannten gegenseitigen Achtung der Menschen (und verschiedener Menschengruppen) für einander und der nachhaltigen Entwicklung stehen (UNESCO 2003). In der österreichischen Bundesverfassung ist das zwar weniger deutlich angelegt, allerdings gilt auch hier im Wesentlichen das Gleiche (Berka 1999, 1-18); insbesondere auch, dass der Mensch vor dem Staat kommt, nicht umgekehrt.

Damit wird in demokratischen Verfassungsstaaten wie Deutschland und Österreich aber die Verwendung eines normativen Kulturbegriffs zur Bestimmung, welches Kulturerbe ‚wertvoller‘ ist als anderes, praktisch unmöglich: es ist in derart organisierten Gesellschaften eben gerade nicht die Aufgabe des Staates, seinen BürgerInnen vorzuschreiben, welche Kultur sie zu leben haben und welches kulturelle Erbe ihnen wichtig zu sein hat, sondern die Frage, welche kulturellen Handlungen (Ausdrucksformen, etc.) sie setzen wollen und welches Kulturerbe sie wertschätzen, eine Frage, die der so weitgehend als möglich freien, selbstbestimmten Entscheidung der BürgerInnen selbst überlassen bleiben muss. Nur wenn die unbeschränkte Ausübung einer bestimmten kulturellen Praxis dazu führen würde, dass gleichwertige (Grund- bzw. Menschen-) Rechte Dritter oder gleichwertige sonstige Rechtsgüter ernsthaft gefährdet würden, darf (und muss) der Staat die Kulturfreiheit diese Praxis zu leben beschränken. Selbst diese Beschränkung darf dann jedoch nur soweit gehen, als dies zum Schutz der derart gefährdeten Rechtsgüter erforderlich und mit den dadurch vorgenommenen Einschränkungen der Kulturfreiheit verhältnismäßig ist.

Mehr noch: im Fall miteinander kollidierender, jeweils für sich betrachtet berechtigter, kultureller Interessen – also bei einem „Insichkonflikt“ (Krischok 2016, 135) von materiellem und immateriellem Kulturgüterschutz wie im konkret vorliegenden Fall – beschränken sich diese kollidierenden Interessen gegenseitig; nicht nur das eine Interesse einseitig das andere, aber nicht umgekehrt. Man kommt an dieser Stelle eben unweigerlich bei der „gegenseitigen Achtung“ des Art. 2 Abs. 1 letzter Satz des UNESCO-Übereinkommens (2003) bzw. den damit korrespondierenden Rechten und Verpflichtungen des Art. 4 der Faro-Konvention (Europarat 2005a) an.

Denn man hat bei einem solchen Konflikt im Prinzip zwei unterschiedliche „Gemeinschaften für das Kulturerbe“ im Sinne der einschlägigen Begriffsbestimmung des Art. 2 lit. b der Faro-Konvention (Europarat 2005a; siehe für die deutsche Begrifflichkeit die österreichische amtliche Übersetzung der Konvention ins Deutsche in BGBl. III 23/2015) vor sich, die jedoch dem gleichen Kulturerbe wenigstens unterschiedliche, wenn nicht sogar gegensätzliche Werte zuschreiben. Es stehen hier nämlich die professionellen ArchäologInnen bzw. die archäologischen DenkmalpflegerInnen, die das – überwiegend materiell fassbare – archäologische Erbe als Quelle ihrer Wissenschaft und der kollektiven europäischen Erinnerung (im Sinne des Art. 1 Abs. 1 des Valletta-Übereinkommens; Europarat 1992) erhalten wollen, den SchatzsucherInnen und privaten SammlerInnen archäologischer Kulturgüter gegenüber, die ihre immaterielles kulturelles Erbe darstellenden kulturellen Bräuche, Wissen, Fertigkeiten etc. ausleben wollen, die sie zukünftigen Generationen weitergeben wollen und die ihnen ein Gefühl von Kontinuität und Identität vermitteln (im Sinne von Art. 2 Abs. 1 UNESCO 2003).

Nachdem nun aber beide gesellschaftlichen Gruppen den exakt gleichen Rechtsanspruch auf den Schutz ihres jeweiligen kulturellen Erbes und ihrer kulturellen Praktiken haben, darf der Staat und insbesondere seine mit dem Kulturgüterschutz betrauten Organe nicht durch eine willkürliche Wertung die eine Gruppe gegenüber der anderen bevorzugen. Dem steht nämlich schon der allgemeine Gleichheitsgrundsatz unserer Bundesverfassungen diametral entgegen: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (Art. 3 Abs. 1 GG bzw. sinngemäß gleich Art. 7 Abs. 1 1. Satz B-VG und Art. 2 StGG). Eine generelle Privilegierung der Interessen der einen Gruppe vor denen der anderen ist daher zwingend ausgeschlossen; ebenso wie jede willkürliche Wertung, die dem einen Kulturerbe a priori einen höheren Wert einräumt als dem anderen.

Daher sieht auch die Faro-Konvention in ihrem Art. 7 lit. b für solche „Insichkonflikte“ (Krischok 2016, 135) im Bereich des Kulturgüterschutzes die „Einführung von Schlichtungsverfahren zum ausgewogenen Umgang mit Situationen“ vor, „in denen unterschiedliche Gemeinschaften demselben Kulturerbe gegensätzliche Werte zuschreiben“ (Europarat 2005a; Hervorhebung: RK). Dies verweist deutlich auf die Notwendigkeit der Gleichstellung und Gleichbehandlung der Parteien mit einander entgegenstehenden Interessen am gleichen kulturellen Erbe; ein Aspekt, der in den Erläuterungen zur Konvention noch deutlicher betont wird: „Disagreements are valuable for democratic debate, and conciliation has as its aim taking fair account of all the knowledge and viewpoints represented. The process of conciliation must accord a role to all interested actors and make use of diverse specialist expertise, including at the international level if necessary” (Europarat 2005b, 9; Hervorhebung: RK).

Klar ist jedenfalls – und zwar sowohl aufgrund innerstaatlichen Verfassungsrechts als auch völkerrechtlicher Verpflichtungen, die unsere Staaten eingegangen sind und daher mittelbar im innerstaatlichen Recht umzusetzen haben – dass unter Voraussetzung eines modernen, totalitätsorientierten, bedeutungs- bzw. wissensorientierten Kulturbegriffs eine einfache, generalisierte Beurteilung der Frage, welche Kulturgüter – die vorwiegend materiellen der ArchäologInnen oder die überwiegend immateriellen der SchatzsucherInnen und privaten KulturgutsammlerInnen – nun ‚wertvoller‘ sind als die anderen, nicht möglich ist. Geht es dem Staat nicht um die Herstellung interner kultureller Homogenität, sondern um die Achtung, den Schutz und die Förderung der kulturellen Vielfalt und der kulturellen Selbstbestimmungs- und Entfaltungsrechte seiner BürgerInnen – und darum muss es ihm als modernem Verfassungsstaat gehen, sonst missachtet er seinen eigenen „obersten Verfassungswert“ (Jarass & Pieroth 2016, 41) und diskriminiert willkürlich und ungerechtfertigt einen Teil seiner BürgerInnen zum Vorteil und Nutzen eines anderen Teils seiner Bürgerschaft – muss er allen Kulturgütern, die Teilen seiner Bürgerschaft wertvoll sind, bei generalisierender Betrachtung grundsätzlich vorerst einmal den gleichen Wert zuweisen. Eine Entscheidung, welches Kulturgut in einer bestimmten Situation das andere in Schutzwürdigkeit überwiegt, muss daher stets im konkreten Einzelfall möglichst ausgewogen entschieden werden.

Unausgewogene Entscheidungsprozesse im Kulturgüterschutz

Wie solche Entscheidungsverfahren genau gestaltet werden, bleibt natürlich grundsätzlich jedem Staat selbst überlassen. Jedenfalls unzulässig ist es jedoch, die kulturellen Interessen von Mitgliedern der einen weitgehend oder vollständig der Kontrolle durch die (VertreterInnen der) andere(n) Interessensgruppe zu unterwerfen und/oder in derartigen Verfahren nur VertreterInnen der einen Interessensgruppe als ‚FachexpertInnen‘ zu betrachten und zu hören, während VertreterInnen der anderen jedwede relevante Expertise aberkannt bzw. abgesprochen wird und sie überhaupt nicht gehört werden; d.h. vollkommen unausgewogene Entscheidungsverfahren durchzuführen. Der Ausgleich zwischen den einander entgegenstehenden kulturellen Interessen unterschiedlicher Gemeinschaften für das Kulturerbe muss eben im einem modernen, demokratischen Verfassungsstaat fair und ausgewogen sein; und das kann nicht der Fall sein, wenn VertreterInnen einer Gemeinschaft über die Berechtigung und den Wert der ihren eigenen entgegengesetzten kulturellen Interessen einer anderen Gemeinschaft entscheiden: sie sind in einem solchen Fall schließlich offensichtlich – auch im rechtlichen Sinn – ganz unmittelbar befangen, weil sie als Mitglieder der einen Gemeinschaft für das kulturelle Erbe eigene Interessen am den Entscheidungsgegenstand darstellenden kulturellen Erbe haben und daher per definitionem in der Sache nicht unvoreingenommen entscheiden können.

Gerade die derzeit in den Denkmalschutzgesetzen vorgesehenen, einschlägigen Entscheidungsprozesse – wie z.B. Denkmalunterschutzstellungsverfahren oder gesetzliche Nachforschungsgenehmigungspflichten (NFG-Pflichten) – erfüllen daher die eigentlich erforderliche Funktion als (staatlicher) Schlichtungsprozess zwischen den einander entgegengesetzten kulturellen Interessen der archäologischen und archäologisch-denkmalpflegerischen Gemeinschaft einerseits und der Schatzsucher- und privaten Kulturgutsammlergemeinschaft andererseits in der Form, in der sie derzeit aufgebaut sind, überhaupt nicht. Vielmehr setzen sie die Praktiken des vormodernen Obrigkeitsstaates fort, der zum Zweck der Herstellung interner kultureller Homogenität innerhalb seiner Bevölkerung normativ bestimmte kulturelle Ausdrucksformen willkürlich privilegiert und andere ebenso willkürlich unterdrückt. Denn in (praktisch) allen derartigen, denkmalrechtlich geregelten Verfahren liegt entweder die Entscheidungsgewalt über die Rechtmäßigkeit bestimmter kultureller Handlungen – wie z.B. der Schatzsuche mittels eines Metallsuchgerätes oder anderer vergleichbarer technischer Mess- und Suchgeräte – ausschließlich oder wenigstens überwiegend bei den VertreterInnen der archäologisch-denkmalpflegerischen Wissenschaftsgemeinschaft (so z.B. in NFG-Verfahren); oder werden ausschließlich VertreterInnen dieser Gemeinschaft für das Kulturerbe als FachexpertInnen, deren Bewertung des betroffenen Kulturerbes die einzig entscheidungswesentliche ist, anerkannt und gehört (so z.B. in Unterschutzstellungsverfahren). Angehörige einer anderen Gemeinschaft für das Kulturerbe – wie eben z.B. jener der Schatzsucher- und KulturgutsammlerInnen – haben hingegen in allen derartigen Verfahren höchstens Parteienstellung (z.B. in NFG-Verfahren); oder ihre Bewertung des betroffenen Kulturerbes wird überhaupt nicht gehört (z.B. in Unterschutzstellungsverfahren), weil ihnen – insbesondere von den ArchäologInnen, die dem betroffenen Kulturerbe den ihren entgegengesetzte Werte zuweisen – jedwede relevante Fachexpertise abgesprochen wird.

Ausgewogen ist das sicherlich nicht; sondern es stellt vielmehr eine systematische Diskriminierung jener Gemeinschaft für das Kulturerbe dar, die die Schatzsuche und das private Sammeln von Kulturgütern als ihr immaterielles Kulturerbe betrachtet. Das ist, wenn man den Kulturgüterschutz als Schutz der kulturellen Vielfalt und menschlichen Kreativität ernst nehmen will, ein ernstes Problem, das maßgebliche Änderungen sowohl in der derzeitigen Gesetzgebung als auch in der derzeitigen Denkmalschutzverwaltungspraxis erforderlich macht.

Wie könnte man ausgewogene Schlichtungsprozesse gestalten?

Schlichtungsprozesse im Sinne eines modernen Kulturgüterschutzes müssen also anders aufgebaut sein als die derzeitigen denkmalrechtlichen Entscheidungsprozesse. Wie man solche ausgewogenen Schlichtungsprozesse gestalten kann, ist aber eine weit schwierigere Frage, weil bisher Modelle dafür noch nahezu vollständig fehlen.

Natürlich gäbe es – hypothetisch gesprochen – eine einigermaßen einfache Möglichkeit, solche ausgewogenen Schlichtungsprozesse zu schaffen: man müsste bloß den archäologischen DenkmalpflegerInnen die Entscheidungsgewalt in jenen relevanten Verwaltungsprozessen, in denen sie diese derzeit haben (z.B. in NFG-Verfahren) entziehen, sie beliebigen, in der Sache unbefangenen, Verwaltungsbeamten (die eben gerade keine ArchäologInnen bzw. DenkmalpflegerInnen sind) übertragen und in allen Entscheidungsverfahren (also auch z.B. Unterschutzstellungsverfahren) Expertisen von VertreterInnen aller betroffenen Gemeinschaften einholen, um eine ausgewogene Entscheidung zu gewährleisten. In der Praxis ist diese Möglichkeit jedoch eher schwierig umzusetzen, weil anerkannte ExpertInnen für Schatzsuche und das private Sammeln von Kulturgütern weitgehend bis vollständig fehlen. Überhaupt fehlen bisher etablierte Mechanismen für eine (und sei es auch nur informelle, geschweige denn formelle) ‚Anerkennung‘ von ‚Fachexpertise‘ im Bereich des immateriellen Kulturerbes der Schatzsuche und privaten Kulturgutsammeltätigkeit: die Schatzsuch- und SammlerInnengemeinschaft ist ihrerseits dafür bisher nicht organisiert genug und formelle Qualifikationsmechanismen wie z.B. einschlägige Universitätsstudien oder andere fachliche Ausbildungen fehlen ebenfalls. Hinzu kommt, dass die wenigen wissenschaftlichen ExpertInnen, die es für das Thema bisher gibt, praktisch alle professionelle ArchäologInnen oder DenkmalschützerInnen und daher auch nicht wirklich dafür geeignet sind, die Interessen der ‚anderen Seite‘ zu vertreten.[4] Praktisch unvorstellbar ist, dass staatliche Denkmalbehörden selbst (und sei es auch nur einen) Schatzsucher und/oder Privatsammler anstellen könnten, der dann als Amtssachverständiger für das immaterielle Kulturerbe dieser Gemeinschaft für das Kulturerbe tätig werden könnte. Damit bliebe aber eigentlich nur noch die Bestellung von mehr oder minder zufällig ausgewählten SchatzsucherInnen und/oder SammlerInnen als im Einzelfall extern zugezogene ExpertInnen; deren Aussagen dann aber wohl bei der Bewertung unterschiedlicher Gutachten weit weniger Gewicht beigemessen würde als jenen archäologisch-denkmalpflegerischer Fachleute mit zahlreichen akademischen Titeln, institutioneller Anbindung und langjähriger Erfahrung im Bereich der staatlichen Denkmalpflege; d.h. die eigentlich erforderliche Ausgewogenheit erst recht nicht hergestellt würde.

Die erforderliche Ausgewogenheit wäre daher in der Praxis wohl viel leichter dadurch zu erreichen, dass man eine mehr oder minder eindeutige Trennung zwischen Bereichen vornimmt, die für den Schutz und die Förderung der einen und der anderen Art des Umgangs mit dem kulturellen Erbe verfügbar sind. So z.B. könnte man – wie das z.B. in England und Wales der Fall ist – den archäologischen Kulturgüterschutz (wieder) auf solche Bodenflächen beschränken, die gemäß dem konstitutiven Prinzip (DGUF 2013, 2) geschützt sind (wie gem. §§ 2a oder 3 DMSG geschützte Denkmale oder Grabungsschutzgebiete in den meisten deutschen DSchG), während alle anderen Bodenflächen (wieder) auch zur Schatzsuche und dem Sammeln von Kulturgütern freigegeben werden. Oder man könnte – wie das inzwischen in den Niederlanden der Fall ist (Koninkrijk der Nederlanden 2016) – Schatzsuchen bis zu einer bestimmten Eindringtiefe in den Boden auf allen außer konstitutiv geschützten Bodenflächen und/oder nachdem eine Bodenfläche von der staatlichen archäologischen Denkmalpflege zur Zerstörung (z.B. durch Verbauung) freigegeben wurde gestatten, wie ich es auch zuletzt für Österreich vorgeschlagen habe (siehe dazu z.B. ‚Not whether, but how‘). Eine solche räumliche Teilung würde es nämlich ermöglichen, das Kulturerbe beider betroffener Gemeinschaften hinreichend zu schützen und zu fördern, ohne dass dafür die eine der beiden Gemeinschaften nahvollständig der Aufsicht und Kontrolle durch die andere unterworfen werden müsste.

Schlussbemerkungen zu „Insichkonflikten“ im Kulturgüterschutz

Wie ich in diesem Beitrag gezeigt habe, handelt es sich bei der Schatzsuche und dem privaten Sammeln von Kulturgütern zweifellos um immaterielles Kulturerbe im Sinne der einschlägigen Begriffsdefinition des UNESCO-Übereinkommens (2003). Als solches wird es auch von jenen Menschen, die diesen Hobbies nachgehen, als ihr eigenes kulturelles Erbe wertgeschätzt; diese Menschen wollen es auch an nachfolgende Generationen tradieren; und diese Menschen gewinnen auch ein Gefühl von Kontinuität und Identität aus ihrer entsprechenden kulturellen Praxis. Ihr subjektives, individuelles und kollektives Recht, ihr kulturelles Leben so zu gestalten, wie sie es für richtig halten, wird auch durch die AEMR (UN 1948), den ICESCR (UN 1966), die Faro-Konvention (Europarat 2005a) und auch durch diverse Grundrechtspositionen unserer Bundes- und der deutschen Landesverfassungen geschützt und gewährleistet. Eine willkürliche Ab- bzw. Entwertung ihrer kulturellen Praktiken und ihres Kulturerbes durch den Staat und seine (insbesondere denkmalpflegerischen) Organe ist daher nicht zulässig.

Als professionelle ArchäologInnen mögen wir diese besondere kulturelle Ausdrucksform nicht gerne sehen, weil die Werte, die Schatzsucher und Sammler den gleichen Kulturgütern zuweisen, die auch wir für besonders wertvoll erachten, sich maßgeblich von den Werten, die wir ebendiesen zuweisen, unterscheiden oder diesen sogar entgegengesetzt sind. Aber das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass sie eine Gemeinschaft für das Kulturerbe im Sinne der Faro-Konvention (Europarat 2005a) und wir eine andere ebensolche Gemeinschaft sind, deren kulturelle Interessen nicht immer miteinander im Einklang stehen und zwischen denen daher – wie stets bei derartigen „Insichkonflikten“ (Krischok 2016, 135) ein gerechter und ausgewogener Ausgleich gefunden werden muss. Kommen derartige – jeweils für sich berechtigte, anerkennens-, schützens- und sogar förderungswürdige – Interessen miteinander in Konflikt, muss, wo kein Mittelweg gefunden werden kann, der beide Interessensgruppen gleichermaßen ausreichend zufrieden stellt, manchmal die eine Interessensgruppe manche Dinge, die sie wertschätzt, zugunsten der anderen, die anderen Male hingegen die andere manche ihrer Werte zugunsten der einen aufgeben, d.h. auf einen Teil dessen, was sie wertschätzt, verzichten bzw. ihn sogar verlieren. Im Geiste einer gegenseitigen Achtung, die in modernen, demokratischen, die Menschenwürde und unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte achtenden Verfassungsstaaten für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben erforderlich ist, ist ein solches Geben und Nehmen in solchen Konflikten unumgänglich.

Dabei ist besonders zu beachten, dass insbesondere die Gegenseitigkeit der Achtung von essentieller Bedeutung ist: so wie es die Pflicht der einen Gemeinschaft ist, die andere und damit auch deren Werte zu achten, ist es auch die Pflicht der anderen, die eine und ihre Werte zu achten. Fordern wir ArchäologInnen und archäologische DenkmalpflegerInnen also, dass Schatzsucher und private Sammler von Kulturgütern unsere Werte achten und daher jene archäologischen Kulturgüter, denen wir ganz besonders hohen Wert zuweisen, nicht durch ihr kulturelles Handeln fahrlässig oder vorsätzlich gefährden oder gar zerstören; bedingt das im Gegenzug, dass auch wir die Werte der Schatzsucher und privaten Sammler von Kulturgütern achten und nicht ihre Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume durch unser kulturelles Handeln fahrlässig oder vorsätzlich gefährden oder gar zerstören.

Ein System, wie wir es derzeit nahezu im ganzen deutschen Sprachraum haben, bei dem die von uns als ‚böse‘ betrachteten Schatzsucher und Privatsammler zur Achtung unserer Werte und unseres kulturellen Erbes verpflichtet sind, während wir sie, ihre Werte und ihr kulturelles Erbe mit absoluter Verachtung strafen dürfen, mag uns zwar gefallen und uns nutzen, aber hat in den Gesellschaften, in denen wir leben, und deren Verfassungsordnung, die sie sich selbst gegeben haben, keinen Platz. Es ist ein solches System nicht mehr und nicht weniger als ein Missbrauch der Idee des Kulturgüterschutzes zur Förderung unserer eigenen kulturellen Interessen und Werte auf Kosten derer (wenigstens mancher) unserer MitbürgerInnen, und das ist im höchsten Grade unethisch; selbst für ArchäologInnen, denen der Staat keine denkmalpflegerischen Machtbefugnisse eingeräumt hat; und noch viel mehr für staatliche DenkmalpflegerInnen, die vom Staat mit Machtbefugnissen betraut wurden, um die vom Staat verfolgten Ziele – dem gerechten und ausgewogenen Schutz der Interessen aller seiner BürgerInnen – zum Wohle aller zu verwirklichen.

Will man also den Kulturgüterschutz und die damit verbundenen Aufgaben ernstnehmen, muss man – ob es uns als ArchäologInnen und archäologischen DenkmalpflegerInnen nun gefallen mag oder nicht – die Schatzsuche und das private Sammeln von Kulturgütern ausmachenden Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume ebenso wertschätzen und behandeln wie das materielle und immaterielle archäologische Kulturerbe und den herkömmlichen archäologischen Denkmalschutz. Man muss – neuerlich ob es einem gefällt oder nicht – das immaterielle Kulturerbe der SchatzsucherInnen und SammlerInnen genauso achten wie das materielle und immaterielle archäologische Kulturerbe, das uns selbst besonders am Herzen liegt. Insbesondere muss man auch dazu bereit sein, Kompromisse einzugehen und manchmal die eigenen den kulturellen Interessen der anderen hintanzustellen, damit auch sie selbstbestimmt am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilhaben können, wie sie es für richtig halten. Nicht nur, weil es ethisch richtig ist und eine Vorbedingung für ein friedliches soziales Zusammenleben, sondern nicht zuletzt auch, weil es für den archäologischen Kulturgüterschutz besser ist.

Literaturverweise

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[1] Eine Machtmehrheit ist eine gesellschaftliche (Unter-) Gruppe, die (ob nun generell oder in einem bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens) mehr Macht hat als andere gesellschaftliche (Unter-) Gruppen; wie z.B. politische, wirtschaftliche, religiöse, intellektuelle etc. Eliten. Solche (Unter-) Gruppen können und sind zumeist auch zahlenmäßig eine Minderheit in ihrer Gesellschaft, die aber aufgrund ihrer Machtposition ihre spezifischen, partikulären Interessen – gegebenenfalls auch gegen die Interessen der zahlenmäßigen Bevölkerungsmehrheit – überdurchschnittlich häufig oder sogar in jedem Fall durchsetzen kann. In demokratisch organisierten Gesellschaften ebenso wie in sogenannten ‚Vielvölkerstaaten‘ und ‚pluralistischen‘ bzw. ‚multikulturellen‘ Gesellschaften kann aber natürlich auch eine zahlenmäßige Bevölkerungsmehrheit die Machtmehrheit darstellen. Minderheitenschutz ist streng genommen stets der Schutz von Machtminderheiten, auch wenn er ursprünglich im Kontext des Schutzes zahlenmäßiger Minderheiten in einer bestimmten Bevölkerung entstanden ist,
[2] Unter dem Begriff der ‚Schatzsuche‘ ist hier keineswegs nur die Suche nach wirtschaftlich wertvollen Gegenständen im Sinne der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes ‚Schatz‘ zu verstehen, sondern die Suche nach allen Sachen, die von jener Person, die nach ihnen sucht, subjektiv wertgeschätzt werden. Auch die Suche nach wirtschaftlich völlig wertlosen Gegenständen wie z.B. den Verschlussringen von Getränkedosen aufgrund der persönlichen Interessen eines Einzelnen (ich kenne einen solchen Fall) ist also eine ‚Schatzsuche‘ im Sinne dieses Beitrags, nicht nur die Suche nach Sachen mit Geldwert.
[3] ‚Gewöhnlich‘ ist in diesem Kontext durchaus (ab)wertend gemeint.
[4] Das gilt auch für mich: als Archäologe ist meine Sympathie für das Hobby der Schatzsuche und des Sammelns von Kulturgütern begrenzt. Es geht mir in Artikeln wie diesem auch nicht darum, diese Form des Umgangs mit Kulturgütern zu verteidigen, sondern nur darum, konsequent die Prinzipien des und gesetzlichen Bestimmungen für den (auch, aber nicht nur archäologischen) Kulturgüterschutz, die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Denkmalschutz und in ihre Implikationen für die Denkmalpflegepraxis zu analysieren und darzustellen. Sage ich also, dass die Schatzsuche und das Sammeln ihrerseits schützenswerte kulturelle Praktiken sind, dann tue ich das nicht, weil ich diese Praktiken subjektiv befürworte, sondern weil sie die Definition des immateriellen Kulturerbebegriffs des UNESCO-Übereinkommens (2003) erfüllen und daher im Sinne dieser Konvention schützenswertes immaterielles Kulturerbe sind. Ob mir diese Form von Kulturerbe subjektiv gefällt oder nicht, muss dabei aber ebenso unbeachtlich bleiben wie, ob mir der spanische Stierkampf als kulturelle Praxis oder handgemachte Gebrauchskeramik des 5. Jh. n.Chr. aus Niederösterreich als materielles Kulturerbe gefällt (nur der Vollständigkeit halber: nichts davon gefällt mir); weil entweder alles kulturelle Erbe als Teil der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität geachtet, gefördert und auch geschützt werden muss, egal ob es mir oder einer beliebigen Machtmehrheit gefällt, oder es keinen Kulturgüterschutz im modernen Sinn gibt. Aber auch wenn ich für einen konsequenten modernen Kulturgüterschutz eintrete, wie ich es in Artikeln wie diesem tue, bin ich nicht als ‚Experte‘ zur Vertretung der kulturellen Interessen der Schatzsucher und Sammler geeignet: obgleich ich diese Personengruppe und ihr kulturelles Handeln wissenschaftlich untersuche, bin ich weder selbst ein Mitglied der Schatzsucher- und Sammlergemeinschaft noch schätze ich ihr Kulturerbe in besonderer Weise, sondern bin und bleibe Archäologe, der Archäologie schützen will und daher voreingenommen ist.

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