Art. 27 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, UN 1948) gewährleistet jedem Menschen das Recht,
frei am kulturellen Leben der Gemeinschaft teilzunehmen, sich an den Künsten zu
erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften
teilzuhaben. Während die AEMR selbst völkerrechtlich nicht verbindlich ist,
wird das gleiche Jedermanns-Menschenrecht auf Kultur-, Kunst- und
Wissenschaftsfreiheit auch durch Art. 15 Abs. 1-3 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte (ICESCR, UN 1966) gewährleistet. Der ICESCR ist seit
1976 in Kraft und ist verbindlich geltendes Völkerrecht. Er wurde 1973 von der
Bundesrepublik Deutschland mit expliziter Zustimmung der Länder (BGBl. 1973 II, Nr. 62, 1569-82) und 1978 von der Republik
Österreich (BGBl. 590/1978) ratifiziert und ist somit in
beiden Staaten auch unmittelbar geltendes nationales Recht.
Im Wesentlichen die gleichen Rechte werden auch
durch die jeweiligen Verfassungen dieser beiden Staaten und darüber hinaus auch
durch die meisten deutschen Landesverfassungen implizit oder explizit
garantiert. Ganz explizit garantieren Art. 5 Abs. 3 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) und Art. 17 und 17a österreichisches Staatsgrundgesetz über die allgemeine Rechte
der Staatsbürger (StGG) die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Darüber
hinaus enthalten zahlreiche deutsche Landesverfassungen auch explizite
Kulturstaatsklauseln, die das Recht der LandesbürgerInnen auf Schutz und Pflege
ihrer Kultur und ihres kulturellen Lebens gewährleisten. Schließlich unterliegt
sowohl der deutschen als auch der österreichischen Bundesverfassung wenigstens
implizit das sogenannte ‚Kulturstaatsprinzip‘. Das bedeutet letztendlich, dass
der Staat dafür Sorge zu tragen hat, dass sich seine BürgerInnen (und alle
anderen sich auf seinem Territorium befindlichen Menschen) selbstbestimmt
kulturell so entfalten können, wie sie das gerne möchten. In Österreich kommen
inzwischen durch Ratifikation des Europäischen
Rahmenübereinkommens zum Wert des kulturellen Erbes für die Gesellschaft (Faro-Konvention,
Europarat 2005a) noch die in diesem internationalen
Übereinkommen genauer spezifizierten Rechte zur individuellen und kollektiven
Teilhabe am kulturellen Erbe hinzu, die sich aus dem genannten Grund- und
Menschenrecht ergeben. Das Grund- und Menschenrecht auf Kultur-, Kunst- und
Wissenschaftsfreiheit stellt dabei sowohl ein Abwehrrecht als auch ein
Anspruchs- bzw. Leistungsrecht dar.
In seiner Funktion als Abwehrrecht (status negativus) schützt es jeden
Rechtsträger vor jedem unverhältnismäßigen Eingriff des Staates und seiner
Organe in die freie, d.h. vom jeweiligen Individuum selbstbestimmte, Gestaltung
seiner kulturellen, künstlerischen und wissenschaftlichen Handlungen. Dabei ist
insbesondere von Bedeutung, dass es als Abwehrrecht jedwede inhaltliche
Normierung des Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsbegriffs durch den Staat
ausschließt: der Staat hat den Rechtsträgern nicht zu sagen, was die ‚Kultur‘,
die ‚Kunst‘ oder auch die ‚Wissenschaft‘ ist, die sie schaffen wollen, sondern
Kultur, Kunst und Wissenschaft sind, was die Rechtsträger durch ihre
kulturellen, künstlerischen und/oder wissenschaftlichen Handlungen stetig
selbst schaffen. Die dadurch entstehende Pluralität – ob nun der
verschiedenartigen kulturellen und künstlerischen Handlungen oder Äußerungen
oder der wissenschaftlichen Meinungen und Methoden – ist daher vom Staat
grundsätzlich einmal nicht zu beschränken. Beschränkungen dieser Freiheit sind
nur insoweit möglich, als durch die uneingeschränkte Ausübung dieser
Freiheitsrechte die öffentliche Ordnung, gleichermaßen bedeutende
Gemeinwohlgüter oder die Rechte bzw. Freiheiten Dritter gefährdet bzw.
geschädigt würden (siehe dazu Art. 29 Abs. 2 AEMR).
In seiner Funktion als Leistungsrecht (status positivus) verpflichtet es den
Staat wenigstens dazu, die rechtlichen und praktischen Voraussetzungen (z.B.
öffentliche Einrichtungen) zu schaffen, die den Rechtsträgern die tatsächliche
Ausübung dieser Rechte ermöglichen. Es begründet damit auch jedenfalls
bürgerliche Ansprüche auf die Nutzung bestehender staatlicher Einrichtungen und
eventuell sogar auf finanzielle Unterstützung durch den Staat (cf. Jarass &
Pieroth 2016, 19; Berka 1999, 49). Inwieweit der Staat die zuletzt genannte
(finanzielle) Förderung bestimmter Arten und Formen der Kultur, Kunst und/oder
Wissenschaft bereitstellen möchte, bleibt ihm dabei (wenigstens weitgehend) im
Rahmen des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums selbst überlassen; er darf
allerdings jedenfalls bei der Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für das
freie Kulturschaffen nicht zwischen unterschiedlichen Arten des Kulturschaffens
willkürlich diskriminieren, hat also gleichermaßen geeignete Voraussetzungen
für alle Arten des Kulturschaffens zu erzeugen.
Materielles und immaterielles Kulturerbe und der Kulturgüterschutz
Gerade in der Archäologie verstehen wir unter
Kulturerbe gewöhnlich insbesondere materielle Sachen: bewegliche archäologische
Funde und unbewegliche archäologische Strukturen (Befunde), ob nun im oder über
dem Erdboden, die sowohl als Quelle unserer Wissenschaft als auch der
historischen Erinnerung und des kollektiven Gedächtnisses von Bedeutung und
daher ein schützenswertes Gemeinwohlgut sind. Im traditionellen archäologischen
Denkmalverständnis des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind es sogar praktisch
ausschließlich diese materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit, die
archäologische Kulturgüter sind bzw. sein können.
Im letzten Jahrhundert ist aber auch gerade in
der Archäologie und damit auch in der archäologischen Denkmalpflege zu diesem
traditionellen, rein materialistischen Verständnis des fachspezifischen
Denkmalbegriffs zunehmend auch die Vorstellung hinzugekommen, dass auch die
immateriellen Zusammenhänge zwischen den physischen archäologischen Sachen von
Bedeutung sind. Spätestens in den letzten 50 Jahren ist sogar die dominante
Fachmeinung, dass es in erster Linie die immateriellen Zusammenhänge zwischen
den materiellen archäologischen Hinterlassenschaften sind – die
‚archäologischen Kontexte‘, in denen sich die Funde und Befunde (ob im
dreidimensionalen Raum oder auch im Verhältnis bzw. ihren sonstigen
mannigfaltigen Beziehungen zueinander) befinden – die den materiellen
archäologischen Hinterlassenschaften erst wirklich (den Großteil ihrer)
Bedeutung verleihen und sie daher schützenswert machen.
Der (unsachgemäß) aus seinem Befund gerissene
Fund wird daher heutzutage als (wissenschaftlich und als Quelle des kulturellen
Gedächtnisses) nahezu wertlos (Kriesch et al. 1997, 25-6) betrachtet; und im
Wesentlichen das Gleiche gilt natürlich auch für den (aufgrund Fundleere und
Beziehungslosigkeit zu anderen Befunden) gänzlich kontextlosen Befund. Sind
kontextlose Funde „allenfalls noch Antiquitäten“, die „für
die Forschung kaum noch zu verwenden und nur noch von geringer Bedeutung“
(ibid., 26) sind, selbst wenn es sich dabei eventuell um z.B. künstlerisch
und/oder finanziell wertvolle Objekte (wie z.B. kunstfertig gestaltete
Edelmetallfunde)
handelt; sind kontextlose Befunde nicht mehr als offenbar durch menschliche
Handlungen verursachte Störungen im ansonsten durch natürliche Prozesse
entstandenen Bodenaufbau, die sich nicht weiter interpretieren lassen und daher
für die Erforschung der und die kollektive Erinnerung an die Vergangenheit
aussagen- und damit weitestgehend wertlos bleiben.
Es geht daher schon seit langem dem
archäologischen Denkmalschutz in Theorie und Praxis eigentlich nicht (mehr) so
sehr um die materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit. Die Erhaltung
der materiellen Sachen selbst ist vielmehr (beinahe ausschließlich) Mittel zum
Zweck der ohne sie unmöglichen Erhaltung des eigentlich bedeutenden kulturellen
Erbes, das (sich) in den immateriellen Beziehungen und Verhältnissen zwischen
ihnen (ver)steckt. Worum es in der archäologischen Denkmalpflege wirklich geht,
ist also letztendlich der Schutz immateriellen Kulturerbes.
Immaterielles Kulturerbe sind aber
selbstverständlich nicht nur die diversen immateriellen Beziehungen zwischen
archäologischen Funden und Befunden. Vielmehr wird unter immateriellem
Kulturerbe primär ganz anderes verstanden als das archäologische Kulturerbe, das
– weil es eben der materiellen Komponente der Funde und Befunde (fast)
notwendigerweise bedarf – traditionell dem Bereich des materiellen Kulturerbes
zugeordnet wird. Es sind unter immateriellem Kulturerbe – in den Worten des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des
immateriellen Kulturerbes – „Bräuche,
Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten – sowie die dazu
gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume – zu verstehen,
die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil
ihres Kulturerbes ansehen. Dieses immaterielle Kulturerbe, das von einer
Generation an die nächste weitergegeben wird, wird von den Gemeinschaften und
Gruppen in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in ihrer Interaktion mit der Natur
und mit ihrer Geschichte fortwährend neu gestaltet und vermittelt ihnen ein
Gefühl von Identität und Kontinuität, wodurch die Achtung vor der kulturellen
Vielfalt und der menschlichen Kreativität gefördert wird“ (UNESCO 2003). Die soeben genannte
UNESCO-Konvention, die sich auch ganz konkret und explizit aus den oben
genannten Grund- und Menschenrechten ableitet, verdeutlicht, dass
selbstverständlich auch diese kulturellen Bräuche, Praktiken etc. Kulturgüter
sind, deren Erhaltung und Pflege dem Wohl der Allgemeinheit dient.
Die Idee der Notwendigkeit des Schutzes, der
Erhaltung und Pflege von kulturellen Bräuchen, Ausdrucksformen, Wissens und
Fertigkeiten ist allerdings keineswegs etwas Neues: so garantiert z.B. bereits
1867 Art. 19 StGG das „unverletzliche
Recht“ eines jeden „Volksstamms“
des habsburgischen Kaiserreichs auf „Wahrung
und Pflege seiner Nationalität und Sprache“. Wenigstens die Sprache einer
Gemeinschaft ist natürlich jedenfalls Teil ihres immateriellen Kulturerbes; und
unter Pflege der „Nationalität“ war
selbstverständlich zur Zeit der Erlassung des StGG auch die ‚Brauchtumspflege‘
gemeint, d.h. wenigstens die Pflege der als typisch für den betreffenden „Volksstamm“ betrachteten, immateriellen
kulturspezifischen Praktiken.
Die dem Schutz und der Erhaltung des
immateriellen Kulturerbes dienende ‚Brauchtumspflege‘ geht also wenigstens
ebenso weit zurück wie die Vorstellung, dass es eine Aufgabe des Staates sein
könne, materielle Kulturgüter zu schützen. Es wurde nur die ‚Brauchtumspflege‘
lange Zeit und teilweise bis heute im Unterschied zum Schutz der materiellen
Kulturgüter nicht als (und sei es nur auch) Aufgabe des Staates betrachtet,
sondern vielmehr als Aufgabe jener Gemeinschaften oder Individuen, die
bestimmten Bräuchen, Ausdrucksformen etc. besondere Bedeutung und besonderen
kulturellen Wert beimaßen und beimessen und diese daher im Rahmen ihrer
Kulturfreiheit auch tatsächlich leben. Wenn überhaupt, unterstützt der Staat (im
Sinne der Funktion der Kulturfreiheit als Anspruchsrecht auf staatliche
Leistungen) die ‚Brauchtumspflege‘ finanziell, z.B. wenn er den örtlichen
Trachtenverein fördert, oder die Blasmusikkapelle, oder auch den alljährlichen
Perchtenlauf.
Die Kulturfreiheit als Abwehrrecht zum Schutz immateriellen Kulturerbes
Eine Berufung von Kulturerbegemeinschaften auf
die Abwehrrechtsfunktion der Kulturfreiheit zum Schutz eines bestimmten
traditionellen Brauchtums vor dessen Ausübung beschwerende oder gar gänzlich
verhindernde (staatliche) Beschränkungen ist im letzten Jahrhundert nur eher
selten zu beobachten gewesen; auch wenn die Wurzeln dieses Rechts (wie nicht
zuletzt Art. 19 StGG zeigt) im Widerstand ethnisch-nationaler Minderheiten
gegen die im und vor dem 19. Jh. oftmals versuchte zentralstaatliche Unterdrückung
ihrer Eigensprachlichkeit und ihres ‚Nationalbrauchtums‘ zugunsten eines
Kulturimperialismus einer ‚nationalen Leitkultur‘ und ‚offiziellen
Staatssprache‘ liegen. Die Tatsache, dass eine Berufung auf die
Abwehrrechtsfunktion der Kulturfreiheit auch heute noch eher selten zu
beobachten ist, liegt in erster Linie daran, dass das kulturelle
Selbstbestimmungsrecht ethnischer Minderheiten inzwischen – wenigstens in
modernen Demokratien westlicher Prägung – so allgemein anerkannt ist, dass
kulturimperialistische Unterdrückungsversuche nur noch selten vorkommen.
Dennoch gibt es auch aus der jüngeren und
jüngsten Vergangenheit Beispiele dafür, so nicht zuletzt der gesetzliche Schutz
des traditionellen spanischen Stierkampfes als immaterielles Kulturerbe durch einen
entsprechenden Beschluss des spanischen Parlaments von 7. November 2013 (z.B. Standard 2013) und den damit in Zusammenhang
stehenden Versuch, den Stierkampf als immaterielles Weltkulturerbe anerkennen
zu lassen (z.B. Tagesspiegel 2015), um Einschränkungen oder gar Verboten
dieser kulturellen Praxis durch progressive Regionalregierungen oder übernationale
(z.B. EU-) Tierschutzregelungen entgegenzutreten. Dass die Berufung auf die
Abwehrrechtsfunktion der Kulturfreiheit nur im Kontext von gesellschaftlich
umstrittenem (immateriellem) Kulturerbe erforderlich ist, versteht sich dabei von
selbst: ist eine kulturelle Praxis nicht umstritten, würde wohl niemand
versuchen, sie jenen, die sie frei ausüben wollen, zu verbieten. Eine Berufung
auf die Abwehrrechtsfunktion der Kulturfreiheit durch jene, die ein derartiges
Verbot ihrer kulturellen Praxis verhindern wollen, ist daher normalerweise gar
nicht nötig, wenn die betreffende Praxis nicht aus irgendeinem Grund umstritten
ist. Kulturerbegemeinschaften bedürfen des Schutzes durch die Kulturfreiheit in
ihrer Abwehrrechtsfunktion also meist nur dann, wenn ihre kulturellen
Praktiken, ihr Brauchtum und/oder die Form, wie sie ihre Kultur ausdrücken,
irgendjemand anderem und insbesondere einer andere Interessen verfolgenden
ökonomischen, sozialen oder politischen Machtmehrheit[1]
nicht in den Kram passen.
Aufgrund der historischen Entwicklung des
normativ-uniformen Volkskulturkonzeptes, das in der Archäologie auch dem lange
(und teilweise bis heute) dominanten kulturhistorischen Paradigma (z.B. Hoernes 1892; Kossinna 1911; Childe 1929) zugrunde liegt, und ihrer eigenen Entwicklung
aus dem Schutz von ‚Minderheitsvolkskulturen‘ gegen kulturimperialistische
Bestrebungen wurde die Kulturfreiheit in ihrer Abwehrrechtsfunktion lange Zeit
insbesondere als Schutzinstrument für kulturelle Praktiken ‚indigener‘
ethnischer Minderheiten verstanden. Dies kommt selbst in der Präambel des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des
immateriellen Kulturerbes noch deutlich zum Ausdruck, in der von „Gemeinschaften, insbesondere indigenen
Gemeinschaften“ (UNESCO 2003) die Rede ist. Versteht man – dem
normativen Volkskulturkonzept des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts
folgend – die Kultur eines jeden ‚Volkes‘ als intern einheitlich und nach außen
(gegenüber anderen ‚Volkskulturen‘) klar abgegrenzt, kann es schließlich nur zu
einem ‚Kulturkonflikt‘ zwischen unterschiedlichen Völkern (und deren
unterschiedlichen kulturellen Praktiken) kommen, nicht jedoch zu solchen
‚Kulturkonflikten‘ innerhalb ‚eines Volkes‘.
Genau dieser normativ-einheitliche
Kulturbegriff wird jedoch heute nicht nur wissenschaftlich abgelehnt, weil er
die tatsächlich bestehende kulturelle Variabilität verbirgt bzw. unterdrückt,
die sich selbst innerhalb sich selbst als zusammengehörig betrachtender
‚Völker‘ regelhaft beobachten lässt; er widerspricht auch direkt der als
individuelles Jedermannsrecht konzipierten Kulturfreiheit des Art. 27 AEMR, des Art. 15 Abs. 1 ICESCR, und den Grundrechten zur freien
Persönlichkeitsentfaltung unserer jeweiligen Verfassungen. Es hat sich daher
auch das Verständnis davon verändert, was alles immaterielles kulturelles Erbe
sein kann, und dass ‚Kulturkonflikte‘ keineswegs nur zwischen unterschiedlichen
ethnischen Gemeinschaften, sondern auch innerhalb ein und derselben
Gemeinschaft auftreten können. In solchen innergesellschaftlichen
‚Kulturkonflikten‘ kann daher die Kulturfreiheit auch von einer
innergesellschaftlichen Untergruppe (oder gar einem Einzelnen) als Abwehrrecht
gegen durch andere innergesellschaftliche Akteure bzw. Untergruppen veranlasste
staatliche Beschränkungen einer von der Ersteren wertgeschätzten, von den Zweiten
hingegen abgelehnten und daher innergesellschaftlich umstrittenen, kulturellen
Praktik ins Feld geführt werden.
Das schon oben genannte Beispiel des
traditionellen spanischen Stierkampfes ist ein hervorragendes Beispiel für
einen derartigen innergesellschaftlichen ‚Kulturkonflikt‘: die nunmehr als
immaterielles Kulturerbe geschützte Praxis war und ist nicht eine Praxis einer
‚indigenen ethnischen Minderheit‘, die zugunsten einer ‚einheitlichen
nationalen Leitkultur (einer ethnischen Machtmehrheit)‘ unterdrückt werden
sollte. Vielmehr treffen hier innerhalb der ‚spanischen Volkskultur‘ die
Tierschutzinteressen ‚progressiver‘ Bevölkerungsgruppen auf die Interessen eher
‚konservativer‘ Bevölkerungsgruppen, sich an einem ‚Blutsport‘ vergnügen und
dadurch ihrer kulturellen Identität als Spanier Ausdruck verleihen zu können.
Will man den Kulturgüterschutz ernst nehmen,
d.h. ihn als Schutz der menschlichen kulturellen Vielfalt und nicht als Mittel
zur normativen Festschreibung einer bestimmten, mehrheitlichen ‚nationalen
Leitkultur‘ (und damit zur Unterdrückung kultureller Vielfalt) verstehen, muss
man also insbesondere jenes immaterielle kulturelle Erbe schützen, das einer
innergesellschaftlichen Machtmehrheit ein Dorn im Auge ist. Dies ist selbst
dann der Fall, wenn es – wie eben im Fall des spanischen Stierkampfes –
durchaus gute Gründe gibt, die betreffende kulturelle Praxis moralisch zu
verurteilen; und auch dann, wenn die betreffende Praxis auch tatsächlich
nachweislich Schaden an (anderen berechtigten) Interessen (und seien es nur denen
von Stieren) anrichtet: ohne die damit verbundene Tierquälerei wäre der
spanische Stierkampf nicht mehr die kulturelle Praxis, die er derzeit ist; und
betrachtet eine Personengemeinschaft diese traditionelle kulturelle Praxis als
ihr kulturelles Erbe, das sie in dieser tierquälerischen Form weitergeben (und
nicht von sich aus verändern und weniger tierquälerisch machen) will, muss man
als Kulturgüterschützer die tierquälerische Praxis schützen, egal was die
Tierschützer (und auch der Tierschützer in einem selbst) davon halten. Ist man
also selbst sowohl Kulturgüter- als auch Tierschützer (eine nicht seltene
Kombination von Interessen), steht man vor einem ethischen Dilemma.
Schatzsuche und Sammeln als traditionelle kulturelle Praktiken
Vor einem vielleicht noch größeren und
schwieriger zu lösenden ethischen Dilemma sieht sich der archäologische
Kulturgutschützer, wenn es um die Schatzsuche nach und das Sammeln von
(archäologischen) Kulturgütern geht. Denn dass es sich beim Sammeln und bei der
Schatzsuche um tief verwurzelte menschliche kulturelle Praktiken handelt, die
auch aus archäologischer und damit auch aus archäologisch-denkmalpflegerischer
Sicht durchaus relevant sind, sollte sich von selbst verstehen.[2]
Selbst ohne die Tatsache zu bemühen, dass am
Beginn der menschlichen Kulturentwicklung Jäger- und Sammlergesellschaften
stehen, in denen das Sammeln von subsistenzökonomisch erforderlichen Gütern (=
Wertsachen) ganz grundlegende Überlebensnotwendigkeit war, zeigen
archäologische ebenso wie historische und literarische Quellen in aller
Deutlichkeit, dass das Sammeln und Schatzsuchen eine enorm lange Tradition als
kulturelle Praxis haben. So weisen zum Beispiel in manchen Zeiten und Räumen
eine Mehrheit aller angelegten Gräber bei moderner archäologischer Ausgrabung
Spuren einer zeitnahe zur Bestattung erfolgten Wiederentnahme von Grabbeigaben
auf. Diese Wiederentnahme kann sowohl Teil eines komplexeren Bestattungsritus,
als auch eines Ahnenverehrungskultes, als auch durch ökonomisches Profitstreben
motivierter Grabraub etc. (oder auch eine Kombination davon) gewesen sein. Was
auch immer aber im jeweiligen Einzelfall der Grund für die Wiederöffnung des
Grabes und die Entnahme von beweglichen Kulturgütern war, in einem bedeutenden
Anteil der Fälle haben wir sicherlich die Spuren von Schatzsuchen in einem oder
anderem Sinn vor uns: der gesuchte Schatz mag der materiell wertvolle
Gegenstand gewesen sein, oder der primär ideell wertvolle ‚magische‘
Gegenstand, der aus dem Grab eines berühmten Helden oder vergöttlichten Ahnens
aus anderen als wirtschaftlichen Gründen entnommen werden sollte, aber als
wertvoll wurde der entnommene Gegenstand jedenfalls betrachtet.
Auch das Sammeln von ‚Schätzen‘, anfänglich
vielleicht noch hauptsächlich aufgrund ihres wirtschaftlichen, bald aber
wenigstens auch aufgrund ihres Wertes als Materialisierung von sozialem
Kapital, hat eine große und lange Tradition. Private Sammlungen bilden nicht
nur den ursprünglichen Kern vieler moderner staatlicher Museumssammlungen (so
z.B. NHM Wien, British Museum, etc.), sondern viele historische Wissenschaften,
nicht zuletzt die Archäologie selbst, entwickeln sich zu guten Teilen in diesen
Sammlungen aus der Notwendigkeit, die sich dort anhäufenden Massen von
‚Kulturschätzen‘ in irgendeine sinnvolle Ordnung zu bringen. Und natürlich wurden
von den diversen Sammlern auch professionelle Schatzsucher „zur Aufsuchung eines Schatzes gedungen“, wie es vom
österreichischen Gesetzgeber 1812 in § 401 Allgemeines
Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB) ausgedrückt wird. Aus solchen professionellen
‚Schatzgräbern‘, die oft anfänglich noch gänzlich auf eigene Rechnung arbeiten,
entwickelt sich dann auch – wenigstens teilweise – die professionelle
Feldarchäologie.
Das Sammeln von und die Suche nach Schätzen der
Vergangenheit sind und bleiben dann vor allem auch auf lokaler Ebene von
besonderer Bedeutung: kommt es in den staatlichen Museen und anderen
wissenschaftlichen Kulturgüterschutzeinrichtungen, insbesondere im Verlauf der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zu einer nahvollständigen
Professionalisierung des Personals, sind nahezu alle lokalen ‚Heimatmuseen‘ nicht
nur aus der privaten Sammeltätigkeit und Schatzsuchleidenschaft einiger Weniger
entstanden – man denke hier nur z.B. in Niederösterreich an das Höbarth- und
das Krahuletz-Museum – sondern ihre Sammlungen werden bis heute vorwiegend von
interessierten Laien betreut, die dann ihrerseits oft auch auf die eine oder
andere Weise selbst sammlerisch tätig sind. Das ist für solche Lokalmuseen sogar
oft notwendig, um überhaupt Ausstellungsstücke zu bekommen; denn die
Wahrscheinlichkeit, dass ein kleines Heimatmuseum irgendwo am Ende der Welt die
Funde einer professionellen Ausgrabung überlassen bekommt, ist nahezu gleich
Null. Archäologische Ethikkodizes wie jener von WSVA und DGUF (2011) fordern
sogar explizit, dass Funde auch dann nicht ‚ungeeigneten‘ Sammlungen – als
welche aus fachlicher Sicht viele, wenn nicht sogar die meisten Heimatmuseen
betrachtet werden – überlassen werden dürfen, selbst wenn ein deutlicher Lokalbezug
besteht. Vielmehr verschwindet die überwältigende Mehrheit der professionell
ausgegrabenen Archäologie, egal wo sie gefunden wurde, in staatlichen Archiven („…am besten in fachlich ausgewiesenen Museen
oder in Landesdenkmalämtern“; DGUF 2011, 3), in den meisten Fällen auf Nimmerwiedersehen,
vor allem für die lokale Bevölkerung, die von all dem oft nicht einmal erfährt.
Natürlich haben sich Schatzsuch- ebenso wie
Sammlungspraktiken über die Jahrhunderte hinweg oft nicht unmaßgeblich
geändert. Haben früher Adelige ebenso wie neureiche Industrielle primär die
langen Korridore (die Galerien) und Stiegenhäuser ebenso wie die eine oder
andere Wunderkammer mit mehr oder minder wild durcheinandergeworfenen
Kulturgütern dekoriert, sammeln heute Mitglieder vieler verschiedener
Bevölkerungsschichten mehr oder minder systematisch bestimmte Arten von
Objekten, archivieren sie teilweise mehr oder minder akribisch, und stellen sie
teilweise auch in mehr oder minder museumsähnlicher Form irgendwo in ihren
Privaträumlichkeiten zur Schau oder überlassen sie teilweise oder vollständig
ihrem örtlichen Heimatmuseum (oder planen das zumindest). Haben Schatzgräber
früher ihre Tätigkeiten hauptsächlich auf noch obertägig erkennbare
archäologische Fundstätten (wie Ruinen-, Grabhügelfelder und Bodenflächen, auf
denen größere Fundmengen ausgeackert wurden) konzentriert oder sich auf ihre
Wünschelrute verlassen, stehen heute insbesondere Metallsuchgeräte als
Werkzeuge zur Lokalisierung potentieller ‚historischer Schätze‘ im Einsatz.
Derartige Veränderungen sind aber nichts Ungewöhnliches,
sondern charakteristisch für jede gelebte kulturelle Praxis: gelebte Kultur
wird stets von einer Generation an die nächste weitergegeben und dabei
fortwährend von den sie Lebenden in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und in
ihrer Interaktion mit der Natur und mit ihrer Geschichte neugestaltet und
bleibt daher auch nicht dauerhaft gleich, sondern unterliegt kulturellem
Wandel. Solche Wandlungsprozesse stellen daher auch keineswegs einen Abbruch
älterer und deren Ersetzung durch neue kulturelle Praktiken dar, sondern sind
Resultat des sozialen Tradierungsprozesses kultureller Praxis, ohne den das
kulturelle Leben der jeweiligen Gemeinschaft zum Erliegen käme.
Schatzsuchen und Sammeln als immaterielles Kulturerbe
Sind aber die Schatzsuche und das Sammeln von
Kulturgütern traditionelle kulturelle Praktiken einer bestimmten Gesellschaft
oder auch nur einer bestimmten Untergruppe einer Gesellschaft, die „von einer Generation an die nächste
weitergegeben“ und „in
Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, in ihrer Interaktion mit der Natur und mit
ihrer Geschichte fortwährend neu gestaltet“ werden (UNESCO 2003), kommt man nicht umhin sich die
Frage zu stellen, ob es sich dabei nicht eventuell um immaterielles Kulturerbe
handeln könnte, das für sich betrachtet ebenso schützenswert ist wie jedes
beliebige andere Kulturerbe auch. Handelt es sich dabei um „Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten –
sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume
– […], die Gemeinschaften, Gruppen
und gegebenenfalls Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen“,
das ihnen „ein Gefühl von Identität und
Kontinuität“ vermittelt, dann sind die Schatzsuche und das Sammeln
tatsächlich traditionelle kulturelle Praktiken, die Teil „der kulturellen Vielfalt und der menschlichen Kreativität“ (UNESCO 2003) darstellen, die zu achten und zu
fördern ist. Mehr noch, die Schatzsuche und das Sammeln von Kulturgütern wären
Teil eben jenes kulturellen Lebens der Gemeinschaft, an dem frei teilzuhaben im
Sinne des Art 27 Abs. 1 AEMR und Art. 15 Abs. 1 ICESCR ein allgemeines Menschenrecht ist.
Dass es sich bei sowohl der Schatzsuche als
auch dem Sammeln von Kulturgütern um traditionelle Bräuche, Darstellungen,
Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten sowie dazugehörige Instrumente (wie
z.B. heute Metallsuchgeräte), Objekte und Artefakte (besuchen Sie auch nur
einmal einen Metallsucher-Shop im Internet, um zu sehen, was es da so alles an
‚hobbyspezifischen‘ Dingen und ‚szeneeigener‘ Fachliteratur zu kaufen gibt,
siehe z.B. https://www.abenteuer-schatzsuche.de/ [10.11.2018]) und natürlich auch
kulturelle Räume (wie die Vitrinen in Privaträumlichkeiten, in denen wenigstens
Teile der Privatsammlungen von passionierten Sammlern ausgestellt werden)
handelt, kann wohl als völlig unstrittig betrachtet werden: wir ArchäologInnen
und archäologischen Denkmalpfleger kennen alle Beispiele dafür in ausreichender
Menge aus eigener Anschauung. Sollte es dennoch jemand ernsthaft bezweifeln
wollen, lässt sich anhand einschlägiger Fachliteratur wie Handbüchern (siehe
z.B. Gesink 2019), Fachzeitschriften (z.B. Abenteuer Geschichte [10.11.2018]; Jahresschrift Netzwerk Geschichte Österreichs [10.11.2018]) und anderen Medien
wie Internet-Diskussionsforen und Facebook-Gruppen (z.B. http://www.sondengaenger.at/ [10.11.2018]) leicht nachvollziehen, dass dem
tatsächlich so ist.
Die gleichen Evidenzen demonstrieren auch
ebenso deutlich, dass die Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen, die
Schatzsuche und Sammeln praktizieren, diese Praktiken als ihr Kulturerbe
betrachten, das sie auch nachfolgenden Generationen tradieren wollen und das ganz
wesentlich für ihre Identitätsbildung und ihr Kontinuitätsempfinden ist.
Lehrbücher, wie man die betreffende kulturelle Praxis ‚ordentlich‘ ausübt,
werden nur geschrieben, wenn wenigstens einer aus einer früheren Generation von
Praktikanten dieser kulturellen Ausdrucksform Spezialwissen über diese und
damit auch die kulturelle Praxis selbst an eine nachfolgende Generation
tradieren will; und dass es manche solche Bücher – wie z.B. das zitierte
Beispiel (Gesink 2019) – bis wenigstens zu einer 4. Auflage schaffen, zeigt
auch, dass es genug Personen nachfolgender Generationen gibt, die diese Praxis
auch tradiert bekommen wollen. Dass die Sammler von Kulturschätzen ihre
Sammlungen als (ihr) kulturelles Erbe betrachten, das die meisten davon auch
tatsächlich an nachfolgende Generationen (idealerweise in unveränderter Form
und Zusammensetzung) tradieren wollen, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Beides
ist deutliches Zeichen für ein Streben nach Kontinuität, sowohl
rückwärtsgerichteter Kontinuität in die (nähere oder ferne) Vergangenheit als
auch vorwärts gerichteter Kontinuität in die (erhoffte) Zukunft.
Die Tatsache, dass die Intention Vieler, ‚ihre‘
Sammlung an nachfolgende Generationen zu ‚verkulturerben‘, oft aufgrund des
Desinteresses ihrer erbrechtlichen Nachfolger am Erwerb und der Erhaltung
dieses Kulturerbes unverwirklicht bleibt, spielt dabei übrigens keinerlei Rolle
in Bezug auf die Frage, ob die Sammelpraxis immaterielles Kulturerbe ist: so
manche Eltern sind darüber schwer enttäuscht, dass sich ihre Kinder als moderne
urbane Weltbürger verstehen und das von ihren Eltern geliebte und gepflegte
Volksbrauchtum als peinlichen, provinziell-rückständigen Mist verabscheuen,
ohne dass dadurch der Wert des elterlichen Volksbrauchtums als immaterielles
Kulturerbe geschmälert wird. Von wem auf wen eine kulturelle Praxis tradiert
wird, ja ob es überhaupt eine nachfolgende Generation gibt, die eine bestimmte
traditionelle kulturelle Praxis in ihr eigenes Kulturleben integriert, ist nur
relevant dafür, ob dieses bestimmte immaterielle kulturelle Erbe mit Ableben
der letzten Angehörigen der es derzeitig lebenden Generation – sozusagen den
‚letzten Mohikanern‘ – ausstirbt oder für eine weitere Generation (die auch nicht
unbedingt die unmittelbar folgende sein muss) Teil des menschlichen
Kulturlebens und der kulturellen Vielfalt bleibt.
Die Bedeutung des immateriellen (und
materiellen) Kulturerbes der Schatzsuche und des Sammelns für die Mitglieder
der Schatzsucher- und Sammlergemeinschaften für ihre individuelle als auch
kollektive Identitätsbildung ist sogar noch offensichtlicher. Nicht nur gibt es
diverse Orte, ob im realen oder virtuellen Raum, in dem sich Angehörige dieser
Gemeinschaften (mehr oder minder regelmäßig) treffen, sondern davon sind auch
‚Außenstehende‘ oft genug a priori ausgeschlossen: ein Grund, weshalb ich bei
den oben aufgelisteten Beispielen keine der zahlreichen deutschsprachigen
Schatzsucher-Facebook-Diskussionsgruppen angeführt habe, ist der, dass alle
derartigen Gruppen, in denen ich Mitglied bin (deutlich über 10), geschlossene
Gruppen sind. Diese Gruppen sind daher ohne Einladung durch ein Mitglied
überhaupt nicht zugänglich und oft bei Nutzung der Suchfunktion von Facebook
für Nichtmitglieder nicht einmal sichtbar. Die Mitglieder der ‚Schatzsucher-Gemeinschaft‘
verstehen sich also, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, als
zusammengehörige, nach außen hin gegenüber anderen abgeschlossene Gruppe, die
ihre Identität nicht zuletzt durch ihr gemeinsames immaterielles Kulturerbe –
eben die Schatzsuche – generiert bzw. gewinnt.
Mehr noch, gerade die Gruppe der Schatzsucher
gewinnt ihre Identität nicht nur aus ihrem eigenen immateriellen Kulturerbe,
der Schatzsuche, sondern auch aus der Konkurrenz mit und dem Gegensatz zu ‚den
ArchäologInnen‘. Insbesondere in Diskussionen im Internet lässt sich dabei die
typische Polarisierung zwischen einer ‚Wir‘- und einer ‚Die anderen‘-Gruppe
beobachten; und zwar keineswegs nur auf Seiten der SchatzsucherInnen und
SammlerInnen (siehe dazu auch z.B. Jung 2010, 258-292), sondern wenigstens
ebenso stark unter den ‚professionellen‘ ArchäologInnen. SchatzsucherInnen und
‚professionelle‘ ArchäologInnen definieren sich selbst und ihre soziale und
kulturelle Gruppenzugehörigkeit also nicht zuletzt dadurch, dass sie zu den
kulturellen Handlungspraktiken, die ‚die Schatzsuche‘ kennzeichnen, eine
unterschiedliche und in manchen Belangen diametral entgegengesetzte Einstellung
haben.
Die Auseinandersetzung mit ihrer „Umwelt“ und die Interaktion mit der „Geschichte“ von ‚laienhafter‘ und
‚archäologisch-wissenschaftlicher‘ Schatzsuch- und Sammeltätigkeit – suchen und
sammeln Laien in erster Linie in ungebrochener Tradition seit dem frühen
Schatzsuch- und Sammlerwesen wertvolle materielle Gegenstände, suchen und
sammeln ‚professionelle‘ ArchäologInnen heutzutage in erster Linie die schon
weiter oben genannten wertvollen Informationen, die in den immateriellen
Beziehungen zwischen den materiellen Gegenständen gespeichert sind – vermittelt
also beiden Gruppen „ein Gefühl von
Identität und Kontinuität“, das sowohl für ihre Entstehung als auch ihr
Fortleben als konkrete, fassbare Gemeinschaften oder Gruppen von
gleichgesinnten Menschen absolut essentiell und unabdingbar ist. Die
Schatzsuche und das Sammeln sind also tatsächlich traditionelle kulturelle
Praktiken, die Teil „der kulturellen
Vielfalt und der menschlichen Kreativität“ (UNESCO 2003) darstellen, die als immaterielles
Kulturgut zu achten und zu fördern sind. Mehr noch, sie sind auch tatsächlich
Teil eben jenes kulturellen Lebens der Gemeinschaft, an dem frei teilzuhaben
das durch Art 27 Abs. 1 AEMR und Art. 15 Abs. 1 ICESCR garantierte allgemeine Menschenrecht ist.
Welche Kulturgüter sind schützenswerter?
Nehmen wir also nicht nur den materiellen,
sondern auch den immateriellen Kulturgüterschutz ernst, haben wir hier ein
ernsthaftes Problem vor uns; weil wir dadurch vor einem grundlegenden Dilemma
stehen: um die materiellen Kulturgüter – die archäologischen Funde und Befunde
im Boden – vor ihrer unsachgemäßen Bergung aus dem oder Zerstörung im Boden
durch laienhaft agierende Schatzsucher bewahren zu können, müsste man eben jene
traditionellen Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten
beschränken bzw. verbieten (d.h. in ‚tote‘ Kultur umwandeln), welche die
Schatzsuche und die damit verbundene Sammeltätigkeit von materiellen Kulturgütern
ausmachen. Man müsste also immaterielles Kulturerbe vernichten, um das
materielle Kulturerbe zu retten. Um hingegen das immaterielle Kulturerbe der
Schatzsuche und des Sammelns zu schützen und zu fördern muss man akzeptieren,
dass dadurch unweigerlich (wenigstens manche) materielle Kulturgüter, die man eventuell
auch schützen möchte, durch unsachgemäß von Laien durchgeführte Bodeneingriffe
zerstört oder maßgeblich verändert werden. Man muss also der Vernichtung von
materiellem Kulturerbe zusehen, um das immaterielle Kulturerbe zu retten.
Natürlich kann man sich als archäologischer
Denkmalpfleger an dieser Stelle auf die traditionelle Position zurückziehen,
dass die Aufgabe der archäologischen Denkmalpflege der Schutz der materiellen
(archäologischen) Hinterlassenschaften der Vergangenheit als Quellen der
wissenschaftlichen Erforschung der und der kollektiven Erinnerung an diese
Vergangenheit durch gegenwärtige und künftige Generationen ist; der Schutz des
immateriellen Kulturerbes der Schatzsuche und der privaten Sammeltätigkeit
hingegen das Problem einer anderen Art von Kulturgüterschützern (eventuell aus
dem Bereich der ‚Volkskunde‘?), die sich um dieses Problem dann so kümmern
sollen, wie sie es für richtig halten. Das wäre allerdings nicht mehr als eine
billige Ausrede, um die kulturgutschädlichen Konsequenzen des eigenen (denkmalschützerischen)
Handelns ausblenden zu können: man opfert damit den Kulturgüterschutz den
fachlichen Eigeninteressen der Archäologie. Das wäre etwa so, als ob der Baudenkmalpfleger
sagen würde, dass ihn die archäologische Denkmalpflege nichts angeht und er
daher auch ungeniert ein archäologisches Denkmal wegbaggern darf, solange das
der Erhaltung eines Baudenkmals dient, weil die archäologische Denkmalpflege ja
nicht sein Problem als Baudenkmalpfleger sei. Außerdem würde damit das Problem, wie man mit dem
Dilemma umgeht, dadurch nur in den Bereich der Zusammen- oder
Gegeneinander-Arbeit von verschiedenen Wissenschaften mit staatlich autorisierten
Fachinstitutionen verlagert, womit der grundsätzliche Konflikt bestehen bleibt,
der weiterhin gelöst werden muss. Kulturdenkmalpflegerisch wäre eine derartige, fachpartikularistische
Sichtweise des Denkmalschutzes absolut verantwortungslos und ist daher
abzulehnen.
Ebenso wenig kann sich der archäologische
Denkmalpfleger darauf berufen, dass der Staat zwar archäologische Denkmale,
aber nicht das immaterielle Kulturerbe schützen will, weil er in seinen
Denkmalschutzgesetzen keine entsprechenden Vorkehrungen für den Schutz des Letzteren
getroffen hat. Zwar stimmt es natürlich, dass die derzeitigen
Denkmalschutzgesetze den immateriellen Kulturgüterschutz kaum (oder sogar
überhaupt nicht) erwähnen; aber das liegt nicht daran, dass der Staat die
immaterielle Kultur seiner BürgerInnen nicht schützen will: deren Schutz ist
nämlich schon in den völkerrechtlichen Verträgen zu den kulturellen
Menschenrechten und den diesen entsprechenden Grundrechtsbestimmungen unserer
Bundesverfassungen vorgesehen. Ob nun im Wege des allgemeinen Schutzes der
Menschenwürde und der freien Persönlichkeitsentfaltung, der
Kulturstaatsklauseln der deutschen Landesverfassungen, oder spezifischeren
Bestimmungen wie der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit; die lebende Kultur ist
schon vielfach rechtlich hochrangig geschützt und muss daher nicht in
Denkmalschutzgesetzen noch einmal extra geschützt werden. Vielmehr liegt hier
ein „Insichkonflikt“ (Krischok 2016,
135) zwischen einer Staatszielbestimmung (Schutz und Förderung des
selbstbestimmten kulturellen Lebens der BürgerInnen) und zum Erreichen dieses
Zieles geschaffenen Gesetzen (den Denkmalschutzgesetzen) vor, der – auch in der
archäologischen Denkmalpflege – nicht einfach ignoriert werden kann, sondern gelöst
werden muss.
Damit kommt man letztendlich unweigerlich bei
der Frage an, welche Kulturgüter – die (überwiegend) immateriellen der lebenden
oder die (eher) materiellen der toten Kultur – wertvoller und daher
schützenswerter sind als die jeweils anderen. Diese Frage kann man nun aber auf
zwei sehr fundamental unterschiedliche Arten beantworten, gleichgültig ob man
sie jeweils im konkreten Einzelfall oder allgemein beantworten möchte. Wie man
sie beantwortet, hängt dabei in erster Linie davon ab, von welchem
Kulturbegriff man ausgehen will.
Der normative Kulturbegriff des 19. und frühen 20. Jh. und ‚wertvolle‘ Kulturgüter
Die erste Möglichkeit diese Frage zu beantworten
ist im Wege des Rückgriffs auf einen normativen (Hoch- bzw. National-)
Kulturbegriff (Reckwitz 2004, 6). Dieser (generalisierend) wertende und auch
präskriptive (vorschreibende) Kulturbegriff war insbesondere für die
Entwicklung des Kulturbegriffs im 19. Jahrhundert ausschlaggebend und beruht
letztendlich auf einer Auszeichnung bzw. Hervorhebung bestimmter (zumeist
angeblich ‚nationalspezifischer‘) kultureller Phänomene, Objekte und Praktiken,
die (angeblich oder tatsächlich) in einer Gesellschaft hochgeschätzt und durch
Traditionsbildung bewahrt werden. Was die für einen bestimmten Nationalstaat
und dessen Selbstbild ‚besonders bedeutende‘ und daher zu schützende Kultur –
wenn man so will, die staatlich autorisierte ‚nationale Hochkultur‘ – ist, ist
dabei selbstverständlich von den politischen Organen des betreffenden Staates
(oder ExpertInnen, an die diese politischen Organe die Auswahlaufgabe
delegieren) vorzugeben; Vorgaben, die dann von den staatlichen
Verwaltungsorganen zum Wohle des Staatsganzen durchzusetzen sind,
erforderlichenfalls auch gegen den Willen der Staatsangehörigen des
betreffenden Staates. Alles, was diesem normativen Kulturbegriff nicht
entspricht, aber auch Ergebnis menschlichen kulturellen Handelns ist, ist
folglich unter diesem Kulturbegriffsverständnis maximal eine (minderwertige)
‚Subkultur‘, die keines staatlichen Schutzes bedarf, oder sogar – wenn sie den
Vorgaben des staatlich autorisierten Kulturbegriffsverständnisses widerspricht
– eine ‚Unkultur‘, die ausgerottet werden muss, weil sie die Staatshochkultur
gefährdet.
Es ist dies der Kulturbegriff, der auch der
frühen archäologischen Wissenschaft und insbesondere der frühen
deutschsprachigen Ur- und Frühgeschichtswissenschaft und auch Kossinnas
bekannter Hypothese „Scharf umgrenzte
archäologische Kulturprovinzen decken sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten
Völkern und Volksstämmen“ (Kossinna 1911, 3) zugrunde liegt: ein bestimmtes
‚Volk‘ hat eine in sich uniforme ‚Kultur‘, von der es – insbesondere in ihren
frühen, ‚reinen‘ Urzuständen in der fernen Vergangenheit – keinerlei
individuelle Abweichungen gibt und geben darf. Daher ist ja, um das andere
Hauptwerk Kossinnas auch noch zu zitieren, Die
deutsche Vorgeschichte eine hervorragend nationale Wissenschaft (Kossinna
1912): sie gestattet es der schon lange diskreditierten Vorstellung Kossinnas
zufolge das ‚deutsche Volk‘ bis zu seinen ursprünglichen, reinen Anfängen
zurückzuverfolgen und damit das nationale Zusammengehörigkeitsempfinden des
gegenwärtigen deutschen Volkes zu stärken.
Geht man von einem derartigen, normativen
Kulturbegriff aus – wie es die staatliche Denkmalpflege und insbesondere auch
die archäologische Denkmalpflege seit ihren Anfängen tut, die bekanntermaßen im
Zeitalter der Entstehung der modernen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert zu
suchen sind – versteht sich weitgehend von selbst, dass die (anfänglich
insbesondere auch ästhetisch-künstlerisch) wertvollen ‚Antiken‘, d.h. die
materiellen Hinterlassenschaften der (insbesondere glorreichen) Vergangenheit
als hochwertige Kulturgüter zu betrachten sind. Das zeigt sich nicht zuletzt dann auch an
denkmalpflegerischen Wertungen, wie z.B. der jüngst kolportierten, dass ein
Massengrab von nach der Völkerschlacht von Leipzig 1813 bei Mainz an Typhus
verstorbenen napoleonischen Soldaten „nicht
mit Römerfunden zu vergleichen“ sei und daher auch denkmalpflegerisch
anders behandelt werde (Wenda
2018).
Aus geschichtswissenschaftlicher bzw.
archäologischer Sicht lässt sich eine derartige Aussage der staatlichen
Denkmalpflege überhaupt nicht nachvollziehen: die Völkerschlacht von Leipzig
war sicherlich historisch ein weitaus bedeutenderes Ereignis als vieles, was
während der römischen Besiedlung des heutigen Deutschlands vorgefallen ist; und
aus archäologischer Sicht sind die Überreste zahlreicher in einem bekannten
Kontext umgekommener Soldaten aus den napoleonischen Kriegen wenigstens ebenso
bedeutend, wenn nicht weitaus bedeutender, als beliebige Bestattungen aus einem
beliebigen provinzialrömischen Gräberfeld. Erklärbar ist eine solche
denkmalpflegerische Bewertung der relativen Bedeutung eines napoleonischen
Massengrabes und beliebiger römischer Funde nur unter der Voraussetzung eines
normativen Kulturbegriffs, der – nicht zuletzt aufgrund des (mehr oder minder
engen) Bezuges Deutschlands im Wege des römischen Kaiserreichs deutscher Nation
zum Imperium Romanum – der ‚antiken römischen Hochkultur‘ einen inhärent
höheren Wert beimisst als französischen Kriegsopfern aus dem 19. Jahrhunderts.
Die (provinzial-) römische Kultur wird als Teil der historischen Wurzeln des
modernen Deutschlands gesehen, während die napoleonischen Franzosen eine
‚fremde Macht‘ waren, die ihre ‚fremde Kultur‘ dem deutschen Volk aufzwingen
wollten und damit die kulturelle Eigenentwicklung des deutschen Volkes
gefährdeten, und das bedingt die unterschiedliche Bewertung der Bedeutung ihrer
jeweiligen Hinterlassenschaften.
Die aus privatem Interesse oder auch bloßem
Vergnügen betriebene ‚Schatzsuche‘ und das ‚private‘ Sammeln archäologischer
Kulturgüter durch ‚gewöhnliche‘ BürgerInnen hingegen ist aus dem Blickwinkel
eines normativen Kulturbegriffs eine typische ‚Unkultur‘, die es möglichst
auszurotten gilt, weil sie den Schutz und die Erhaltung der ‚bedeutenden Schätze
der Vergangenheit‘ gefährdet. Schließlich fehlt unter dem mit dem normativen
Kulturbegriff integral verbundenen autoritär-hierarchischen Gesellschaftsmodell
des 19. Jahrhunderts (siehe dazu auch schon Karl 2016, 2) den nicht hinreichend
gebildeten, ‚gewöhnlichen Menschen‘[3]
das ausreichende Verständnis dafür, den wahren, inneren Wert der ‚besonders
bedeutenden‘ Kulturgüter überhaupt zu erkennen. Um Georg Dehios Worte zu
benutzen: „In alle Schichten muß das
Gefühl eindringen, daß das Volk, das viele und alte Denkmäler besitzt, ein
vornehmes Volk ist. Wenn das Volk erst darüber unterrichtet ist, worum es sich
handelt, mag es, wo Gegenwart und Vergangenheit in Konflikt kommen, die Wahl
und Verantwortung übernehmen.“ (Dehio 1905, 274). Solange ‚das Volk‘ von der staatlichen
Denkmalpflege, welche die Bedeutung von Denkmalen überhaupt erst richtig
erkennen kann, nicht ausreichend belehrt wurde, was nun für die normativ
vorgegebene, uniforme Nationalkultur wirklich wichtig ist, muss man es aus
diesem Blickwinkel von jedweder Wahl ausschließen und darf ihm keinerlei
Selbstverantwortung überlassen; und das macht notwendigerweise die private
‚Schatzsuche‘ und das damit verbundene, selbstbestimmte Sammeln archäologischer
Kulturgüter durch per Definition nicht ausreichend gebildete Laien zum
denkmalpflegerischen Anathema.
Vereinfacht gesagt, geht es bei Voraussetzung
eines normativen Kulturbegriffs der staatlichen Denkmalpflege darum, die generelle
Einheitlichkeit der Nationalkultur zu schützen, die für die
Nationalstaatsfiktion des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts besonders
bedeutend ist. D.h. es geht dem Nationalstaat und seinen (denkmalpflegerischen)
Organen unter dieser Voraussetzung letztendlich darum, die innerstaatliche
kulturelle Vielfalt möglichst zu unterdrücken und, wo es sie doch gibt oder sie
zu entstehen droht, möglichst zu bekämpfen: eine ‚andere‘ Kultur darf es nur in
anderen Staaten geben, nicht im eigenen.
Der bedeutungsorientierte Kulturbegriff der Gegenwart und ‚wertvolle‘ Kulturgüter
Charakteristisch für unsere Gegenwart ist
jedoch nicht mehr so sehr der normative Kulturbegriff des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts, der – insbesondere in den Kulturwissenschaften – seit spätestens
der Mitte des 20. Jahrhunderts als weitgehend überwunden gilt, sondern ein viel
weiter gefasster, totalitätsorientierter, deskriptiver, insbesondere stärker bedeutungs-
und wissensorientierter Kulturbegriff (Reckwitz 2004). Ein gutes Beispiel für
diesen modernen Kulturbegriff ist z.B. die Definition von Peter M. Hejl, der
unter dem Begriff Kultur „die Summe jenes
Wissens und jener Fertigkeiten, die durch soziales Lernen weitergegeben werden,
sowie den Prozess der Weitergabe selber“ (Hejl 2001, 24) versteht. Die
deutsche Bundeszentrale für politische Bildung drückt denselben Grundgedanken
hingegen wie folgt aus: „Demzufolge wird
Kultur als der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von Vorstellungen,
Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen aufgefasst, der sich in
Symbolsystemen materialisiert. Einer solchen Begriffsbestimmung zufolge sind
nicht nur materiale (z.B. künstlerische) Ausdrucksformen zum Bereich der Kultur
zu zählen, sondern auch die sozialen Institutionen und mentalen Dispositionen,
die die Hervorbringung solcher Artefakte überhaupt erst ermöglichen.“ (Nünning 2009).
Es ist auch genau diese Art der Definition des
Kulturbegriffs, die den modernen internationalen Konventionen wie jener der
UNESCO (2003) zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes
und auch der Faro-Konvention (Europarat 2005a) zugrunde liegen; die sich
letztendlich direkt aus den in der AEMR (UN 1948) und im ICESCR (UN 1966) garantierten
kulturellen Menschenrechten ableiten. Es geht diesen Konventionen daher auch –
schließlich geht es bei den Menschenrechten letztendlich primär um den Schutz
der individuellen Interessen des einzelnen Menschen und beliebiger
Menschengruppen vor willkürlichen staatlichen Eingriffen in deren
Selbstbestimmung – gerade im Gegensatz zum normativen Kulturbegriff und dessen –
letztendlich immer willkürlichen – nationalstaatlichen Verwendung nicht um eine
Vereinheitlichung des kulturellen Lebens der Staatsgemeinschaft und ihrer
Angehörigen, sondern um den Schutz, die Achtung und Förderung der kulturellen
Vielfalt, nicht nur der zwischen-, sondern insbesondere auch der
innerstaatlichen. Daher verweist das UNESCO-Übereinkommen auch ganz klar
darauf, dass keineswegs nur staatlich autorisierte kulturelle Erscheinungen als
immaterielles Kulturerbe zu verstehen seien, sondern vielmehr alle kulturellen
Praktiken, die beliebige „Gemeinschaften,
Gruppen und gegebenenfalls
Einzelpersonen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen“ (UNESCO 2003; Hervorhebung: RK).
Das bedeutet letztendlich, dass die
Kulturfreiheit eben eine Individualfreiheit ist: jeder darf für sich selbst
entscheiden, welche kulturellen Handlungen er setzen und welche Bräuche,
welches Wissen, welche kulturellen Ausdrucksformen etc. er als sein
individuelles Kulturerbe betrachten möchte. Als solche ist die Kulturfreiheit
natürlich dennoch nicht gänzlich unbeschränkt und kann durch den Staat auch
durchaus beschränkt werden; allerdings nur soweit das „mit dem Anspruch gegenseitiger
Achtung von Gemeinschaften, Gruppen und Einzelpersonen sowie der
nachhaltigen Entwicklung“ (UNESCO 2003; Hervorhebung: RK) vereinbar ist.
Das entspricht wiederum auch den Zielsetzungen der derzeitigen
Bundesverfassungen in Deutschland und Österreich, insbesondere der des Art. 1
und 2 Abs. 1 des deutschen GG:
„Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen
ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und
unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft,
des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende
Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Artikel 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit,
soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die
verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ (GG).
Dabei ist besonders zu bedenken, dass die
Bestimmung des Art. 1 GG und insbesondere der Schutz der Menschenwürde, die
sich aus den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten ergibt, der „oberste Verfassungswert“ bzw. die „wichtigste Wertentscheidung“ (Jarass
& Pieroth 2016, 41) des GG ist; wodurch verdeutlicht wird, „dass in der Ordnung des GG zuerst der Mensch kommt und
erst dann der Staat“ (Jarass & Pieroth 2016, 40). Art. 2 Abs. 1 hingegen schützt die
sich mittelbar aus der Menschenrechtsachtungsgarantie des Art. 1 ergebende
allgemeine Handlungsfreiheit, beschränkt diese aber gleichzeitig auch insoweit,
als dieser Handlungsfreiheit die Verletzung (gleichwertiger) Rechte Dritter,
der verfassungsmäßigen Ordnung und des Sittengesetzes als Grenzen gesetzt
werden. Das entspricht im Wesentlichen der sich in Art. 2 Abs. 1 letzter Satz
des UNESCO-Übereinkommens findenden Einschränkung des immateriellen Kulturerbes
auf solches, das im Einklang mit bestehenden internationalen
Menschenrechtsübereinkünften, der schon oben genannten gegenseitigen Achtung
der Menschen (und verschiedener Menschengruppen) für einander und der
nachhaltigen Entwicklung stehen (UNESCO 2003). In der österreichischen
Bundesverfassung ist das zwar weniger deutlich angelegt, allerdings gilt auch
hier im Wesentlichen das Gleiche (Berka 1999, 1-18); insbesondere auch, dass
der Mensch vor dem Staat kommt, nicht umgekehrt.
Damit wird in demokratischen Verfassungsstaaten
wie Deutschland und Österreich aber die Verwendung eines normativen
Kulturbegriffs zur Bestimmung, welches Kulturerbe ‚wertvoller‘ ist als anderes,
praktisch unmöglich: es ist in derart organisierten Gesellschaften eben gerade
nicht die Aufgabe des Staates, seinen BürgerInnen vorzuschreiben, welche Kultur
sie zu leben haben und welches kulturelle Erbe ihnen wichtig zu sein hat,
sondern die Frage, welche kulturellen Handlungen (Ausdrucksformen, etc.) sie
setzen wollen und welches Kulturerbe sie wertschätzen, eine Frage, die der so
weitgehend als möglich freien, selbstbestimmten Entscheidung der BürgerInnen
selbst überlassen bleiben muss. Nur wenn die unbeschränkte Ausübung einer
bestimmten kulturellen Praxis dazu führen würde, dass gleichwertige (Grund-
bzw. Menschen-) Rechte Dritter oder gleichwertige sonstige Rechtsgüter
ernsthaft gefährdet würden, darf (und muss) der Staat die Kulturfreiheit diese
Praxis zu leben beschränken. Selbst diese Beschränkung darf dann jedoch nur
soweit gehen, als dies zum Schutz der derart gefährdeten Rechtsgüter
erforderlich und mit den dadurch vorgenommenen Einschränkungen der
Kulturfreiheit verhältnismäßig ist.
Mehr noch: im Fall miteinander kollidierender,
jeweils für sich betrachtet berechtigter, kultureller Interessen – also bei
einem „Insichkonflikt“ (Krischok
2016, 135) von materiellem und immateriellem Kulturgüterschutz wie im konkret
vorliegenden Fall – beschränken sich diese kollidierenden Interessen
gegenseitig; nicht nur das eine Interesse einseitig das andere, aber nicht
umgekehrt. Man kommt an dieser Stelle eben unweigerlich bei der „gegenseitigen Achtung“ des Art. 2 Abs.
1 letzter Satz des UNESCO-Übereinkommens (2003) bzw. den damit korrespondierenden Rechten und
Verpflichtungen des Art. 4 der Faro-Konvention (Europarat 2005a) an.
Denn man hat bei einem solchen Konflikt im
Prinzip zwei unterschiedliche „Gemeinschaften
für das Kulturerbe“ im Sinne der einschlägigen Begriffsbestimmung des Art.
2 lit. b der Faro-Konvention (Europarat 2005a; siehe für die deutsche
Begrifflichkeit die österreichische amtliche Übersetzung der Konvention ins
Deutsche in BGBl. III 23/2015) vor sich, die jedoch dem gleichen
Kulturerbe wenigstens unterschiedliche, wenn nicht sogar gegensätzliche Werte zuschreiben.
Es stehen hier nämlich die professionellen ArchäologInnen bzw. die
archäologischen DenkmalpflegerInnen, die das – überwiegend materiell fassbare –
archäologische Erbe als Quelle ihrer Wissenschaft und der kollektiven
europäischen Erinnerung (im Sinne des Art. 1 Abs. 1 des
Valletta-Übereinkommens; Europarat 1992) erhalten wollen, den SchatzsucherInnen
und privaten SammlerInnen archäologischer Kulturgüter gegenüber, die ihre
immaterielles kulturelles Erbe darstellenden kulturellen Bräuche, Wissen,
Fertigkeiten etc. ausleben wollen, die sie zukünftigen Generationen weitergeben
wollen und die ihnen ein Gefühl von Kontinuität und Identität vermitteln (im
Sinne von Art. 2 Abs. 1 UNESCO 2003).
Nachdem nun aber beide gesellschaftlichen
Gruppen den exakt gleichen Rechtsanspruch auf den Schutz ihres jeweiligen
kulturellen Erbes und ihrer kulturellen Praktiken haben, darf der Staat und
insbesondere seine mit dem Kulturgüterschutz betrauten Organe nicht durch eine
willkürliche Wertung die eine Gruppe gegenüber der anderen bevorzugen. Dem
steht nämlich schon der allgemeine Gleichheitsgrundsatz unserer
Bundesverfassungen diametral entgegen: „Alle
Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (Art. 3 Abs. 1 GG bzw. sinngemäß gleich Art. 7 Abs. 1 1. Satz B-VG und Art. 2 StGG). Eine generelle Privilegierung der Interessen
der einen Gruppe vor denen der anderen ist daher zwingend ausgeschlossen;
ebenso wie jede willkürliche Wertung, die dem einen Kulturerbe a priori einen
höheren Wert einräumt als dem anderen.
Daher sieht auch die Faro-Konvention in ihrem
Art. 7 lit. b für solche „Insichkonflikte“
(Krischok 2016, 135) im Bereich des Kulturgüterschutzes die „Einführung von Schlichtungsverfahren zum ausgewogenen Umgang mit Situationen“
vor, „in denen unterschiedliche
Gemeinschaften demselben Kulturerbe gegensätzliche Werte zuschreiben“ (Europarat 2005a; Hervorhebung: RK). Dies verweist
deutlich auf die Notwendigkeit der Gleichstellung und Gleichbehandlung der
Parteien mit einander entgegenstehenden Interessen am gleichen kulturellen Erbe;
ein Aspekt, der in den Erläuterungen zur Konvention noch deutlicher betont
wird: „Disagreements are valuable for
democratic debate, and conciliation has as its aim taking fair account of all
the knowledge and viewpoints represented. The process of conciliation must
accord a role to all interested actors and make use of diverse specialist expertise, including at the
international level if necessary” (Europarat
2005b, 9; Hervorhebung: RK).
Klar ist jedenfalls – und zwar sowohl aufgrund
innerstaatlichen Verfassungsrechts als auch völkerrechtlicher Verpflichtungen,
die unsere Staaten eingegangen sind und daher mittelbar im innerstaatlichen
Recht umzusetzen haben – dass unter Voraussetzung eines modernen,
totalitätsorientierten, bedeutungs- bzw. wissensorientierten Kulturbegriffs
eine einfache, generalisierte Beurteilung der Frage, welche Kulturgüter – die
vorwiegend materiellen der ArchäologInnen oder die überwiegend immateriellen
der SchatzsucherInnen und privaten KulturgutsammlerInnen – nun ‚wertvoller‘
sind als die anderen, nicht möglich ist. Geht es dem Staat nicht um die
Herstellung interner kultureller Homogenität, sondern um die Achtung, den
Schutz und die Förderung der kulturellen Vielfalt und der kulturellen
Selbstbestimmungs- und Entfaltungsrechte seiner BürgerInnen – und darum muss es
ihm als modernem Verfassungsstaat gehen, sonst missachtet er seinen eigenen „obersten Verfassungswert“ (Jarass &
Pieroth 2016, 41) und diskriminiert willkürlich und ungerechtfertigt einen Teil
seiner BürgerInnen zum Vorteil und Nutzen eines anderen Teils seiner
Bürgerschaft – muss er allen Kulturgütern, die Teilen seiner Bürgerschaft
wertvoll sind, bei generalisierender Betrachtung grundsätzlich vorerst einmal
den gleichen Wert zuweisen. Eine Entscheidung, welches Kulturgut in einer
bestimmten Situation das andere in Schutzwürdigkeit überwiegt, muss daher stets
im konkreten Einzelfall möglichst ausgewogen entschieden werden.
Unausgewogene Entscheidungsprozesse im Kulturgüterschutz
Wie solche Entscheidungsverfahren genau
gestaltet werden, bleibt natürlich grundsätzlich jedem Staat selbst überlassen.
Jedenfalls unzulässig ist es jedoch, die kulturellen Interessen von Mitgliedern
der einen weitgehend oder vollständig der Kontrolle durch die (VertreterInnen
der) andere(n) Interessensgruppe zu unterwerfen und/oder in derartigen
Verfahren nur VertreterInnen der einen Interessensgruppe als ‚FachexpertInnen‘
zu betrachten und zu hören, während VertreterInnen der anderen jedwede
relevante Expertise aberkannt bzw. abgesprochen wird und sie überhaupt nicht
gehört werden; d.h. vollkommen unausgewogene Entscheidungsverfahren
durchzuführen. Der Ausgleich zwischen den einander entgegenstehenden kulturellen
Interessen unterschiedlicher Gemeinschaften für das Kulturerbe muss eben im
einem modernen, demokratischen Verfassungsstaat fair und ausgewogen sein; und
das kann nicht der Fall sein, wenn VertreterInnen einer Gemeinschaft über die
Berechtigung und den Wert der ihren eigenen entgegengesetzten kulturellen
Interessen einer anderen Gemeinschaft entscheiden: sie sind in einem solchen
Fall schließlich offensichtlich – auch im rechtlichen Sinn – ganz unmittelbar
befangen, weil sie als Mitglieder der einen Gemeinschaft für das kulturelle
Erbe eigene Interessen am den Entscheidungsgegenstand darstellenden kulturellen
Erbe haben und daher per definitionem in der Sache nicht unvoreingenommen entscheiden
können.
Gerade die derzeit in den Denkmalschutzgesetzen
vorgesehenen, einschlägigen Entscheidungsprozesse – wie z.B. Denkmalunterschutzstellungsverfahren
oder gesetzliche Nachforschungsgenehmigungspflichten (NFG-Pflichten) – erfüllen
daher die eigentlich erforderliche Funktion als (staatlicher) Schlichtungsprozess
zwischen den einander entgegengesetzten kulturellen Interessen der
archäologischen und archäologisch-denkmalpflegerischen Gemeinschaft einerseits
und der Schatzsucher- und privaten Kulturgutsammlergemeinschaft andererseits in
der Form, in der sie derzeit aufgebaut sind, überhaupt nicht. Vielmehr setzen
sie die Praktiken des vormodernen Obrigkeitsstaates fort, der zum Zweck der
Herstellung interner kultureller Homogenität innerhalb seiner Bevölkerung
normativ bestimmte kulturelle Ausdrucksformen willkürlich privilegiert und
andere ebenso willkürlich unterdrückt. Denn in (praktisch) allen derartigen,
denkmalrechtlich geregelten Verfahren liegt entweder die Entscheidungsgewalt
über die Rechtmäßigkeit bestimmter kultureller Handlungen – wie z.B. der
Schatzsuche mittels eines Metallsuchgerätes oder anderer vergleichbarer
technischer Mess- und Suchgeräte – ausschließlich oder wenigstens überwiegend
bei den VertreterInnen der archäologisch-denkmalpflegerischen
Wissenschaftsgemeinschaft (so z.B. in NFG-Verfahren); oder werden
ausschließlich VertreterInnen dieser Gemeinschaft für das Kulturerbe als
FachexpertInnen, deren Bewertung des betroffenen Kulturerbes die einzig entscheidungswesentliche
ist, anerkannt und gehört (so z.B. in Unterschutzstellungsverfahren).
Angehörige einer anderen Gemeinschaft für das Kulturerbe – wie eben z.B. jener
der Schatzsucher- und KulturgutsammlerInnen – haben hingegen in allen
derartigen Verfahren höchstens Parteienstellung (z.B. in NFG-Verfahren); oder
ihre Bewertung des betroffenen Kulturerbes wird überhaupt nicht gehört (z.B. in
Unterschutzstellungsverfahren), weil ihnen – insbesondere von den
ArchäologInnen, die dem betroffenen Kulturerbe den ihren entgegengesetzte Werte
zuweisen – jedwede relevante Fachexpertise abgesprochen wird.
Ausgewogen ist das sicherlich nicht; sondern es
stellt vielmehr eine systematische Diskriminierung jener Gemeinschaft für das
Kulturerbe dar, die die Schatzsuche und das private Sammeln von Kulturgütern
als ihr immaterielles Kulturerbe betrachtet. Das ist, wenn man den
Kulturgüterschutz als Schutz der kulturellen Vielfalt und menschlichen
Kreativität ernst nehmen will, ein ernstes Problem, das maßgebliche Änderungen
sowohl in der derzeitigen Gesetzgebung als auch in der derzeitigen
Denkmalschutzverwaltungspraxis erforderlich macht.
Wie könnte man ausgewogene Schlichtungsprozesse gestalten?
Schlichtungsprozesse im Sinne eines modernen
Kulturgüterschutzes müssen also anders aufgebaut sein als die derzeitigen
denkmalrechtlichen Entscheidungsprozesse. Wie man solche ausgewogenen
Schlichtungsprozesse gestalten kann, ist aber eine weit schwierigere Frage,
weil bisher Modelle dafür noch nahezu vollständig fehlen.
Natürlich gäbe es – hypothetisch gesprochen –
eine einigermaßen einfache Möglichkeit, solche ausgewogenen
Schlichtungsprozesse zu schaffen: man müsste bloß den archäologischen
DenkmalpflegerInnen die Entscheidungsgewalt in jenen relevanten
Verwaltungsprozessen, in denen sie diese derzeit haben (z.B. in NFG-Verfahren)
entziehen, sie beliebigen, in der Sache unbefangenen, Verwaltungsbeamten (die
eben gerade keine ArchäologInnen bzw. DenkmalpflegerInnen sind) übertragen und
in allen Entscheidungsverfahren (also auch z.B. Unterschutzstellungsverfahren)
Expertisen von VertreterInnen aller betroffenen Gemeinschaften einholen, um
eine ausgewogene Entscheidung zu gewährleisten. In der Praxis ist diese
Möglichkeit jedoch eher schwierig umzusetzen, weil anerkannte ExpertInnen für
Schatzsuche und das private Sammeln von Kulturgütern weitgehend bis vollständig
fehlen. Überhaupt fehlen bisher etablierte Mechanismen für eine (und sei es
auch nur informelle, geschweige denn formelle) ‚Anerkennung‘ von
‚Fachexpertise‘ im Bereich des immateriellen Kulturerbes der Schatzsuche und
privaten Kulturgutsammeltätigkeit: die Schatzsuch- und SammlerInnengemeinschaft
ist ihrerseits dafür bisher nicht organisiert genug und formelle
Qualifikationsmechanismen wie z.B. einschlägige Universitätsstudien oder andere
fachliche Ausbildungen fehlen ebenfalls. Hinzu kommt, dass die wenigen wissenschaftlichen
ExpertInnen, die es für das Thema bisher gibt, praktisch alle professionelle
ArchäologInnen oder DenkmalschützerInnen und daher auch nicht wirklich dafür
geeignet sind, die Interessen der ‚anderen Seite‘ zu vertreten.[4]
Praktisch unvorstellbar ist, dass staatliche Denkmalbehörden selbst (und sei es
auch nur einen) Schatzsucher und/oder Privatsammler anstellen könnten, der dann
als Amtssachverständiger für das immaterielle Kulturerbe dieser Gemeinschaft
für das Kulturerbe tätig werden könnte. Damit bliebe aber eigentlich nur noch
die Bestellung von mehr oder minder zufällig ausgewählten SchatzsucherInnen
und/oder SammlerInnen als im Einzelfall extern zugezogene ExpertInnen; deren
Aussagen dann aber wohl bei der Bewertung unterschiedlicher Gutachten weit
weniger Gewicht beigemessen würde als jenen archäologisch-denkmalpflegerischer
Fachleute mit zahlreichen akademischen Titeln, institutioneller Anbindung und
langjähriger Erfahrung im Bereich der staatlichen Denkmalpflege; d.h. die eigentlich
erforderliche Ausgewogenheit erst recht nicht hergestellt würde.
Die erforderliche Ausgewogenheit wäre daher in
der Praxis wohl viel leichter dadurch zu erreichen, dass man eine mehr oder
minder eindeutige Trennung zwischen Bereichen vornimmt, die für den Schutz und
die Förderung der einen und der anderen Art des Umgangs mit dem kulturellen
Erbe verfügbar sind. So z.B. könnte man – wie das z.B. in England und Wales der
Fall ist – den archäologischen Kulturgüterschutz (wieder) auf solche Bodenflächen
beschränken, die gemäß dem konstitutiven Prinzip (DGUF 2013, 2) geschützt sind (wie gem. §§ 2a
oder 3 DMSG geschützte Denkmale oder Grabungsschutzgebiete in den meisten
deutschen DSchG), während alle anderen Bodenflächen (wieder) auch zur
Schatzsuche und dem Sammeln von Kulturgütern freigegeben werden. Oder man
könnte – wie das inzwischen in den Niederlanden der Fall ist (Koninkrijk der Nederlanden 2016) – Schatzsuchen bis zu einer
bestimmten Eindringtiefe in den Boden auf allen außer konstitutiv geschützten
Bodenflächen und/oder nachdem eine Bodenfläche von der staatlichen
archäologischen Denkmalpflege zur Zerstörung (z.B. durch Verbauung) freigegeben
wurde gestatten, wie ich es auch zuletzt für Österreich vorgeschlagen habe
(siehe dazu z.B. ‚Not whether, but how‘). Eine solche räumliche Teilung würde es nämlich ermöglichen, das
Kulturerbe beider betroffener Gemeinschaften hinreichend zu schützen und zu
fördern, ohne dass dafür die eine der beiden Gemeinschaften nahvollständig der
Aufsicht und Kontrolle durch die andere unterworfen werden müsste.
Schlussbemerkungen zu „Insichkonflikten“ im Kulturgüterschutz
Wie ich in diesem Beitrag gezeigt habe, handelt
es sich bei der Schatzsuche und dem privaten Sammeln von Kulturgütern
zweifellos um immaterielles Kulturerbe im Sinne der einschlägigen
Begriffsdefinition des UNESCO-Übereinkommens (2003). Als solches wird es auch von jenen Menschen,
die diesen Hobbies nachgehen, als ihr eigenes kulturelles Erbe wertgeschätzt;
diese Menschen wollen es auch an nachfolgende Generationen tradieren; und diese
Menschen gewinnen auch ein Gefühl von Kontinuität und Identität aus ihrer
entsprechenden kulturellen Praxis. Ihr subjektives, individuelles und
kollektives Recht, ihr kulturelles Leben so zu gestalten, wie sie es für
richtig halten, wird auch durch die AEMR (UN 1948), den ICESCR (UN 1966), die
Faro-Konvention (Europarat 2005a) und auch durch diverse
Grundrechtspositionen unserer Bundes- und der deutschen Landesverfassungen
geschützt und gewährleistet. Eine willkürliche Ab- bzw. Entwertung ihrer
kulturellen Praktiken und ihres Kulturerbes durch den Staat und seine
(insbesondere denkmalpflegerischen) Organe ist daher nicht zulässig.
Als professionelle ArchäologInnen mögen wir
diese besondere kulturelle Ausdrucksform nicht gerne sehen, weil die Werte, die
Schatzsucher und Sammler den gleichen Kulturgütern zuweisen, die auch wir für
besonders wertvoll erachten, sich maßgeblich von den Werten, die wir ebendiesen
zuweisen, unterscheiden oder diesen sogar entgegengesetzt sind. Aber das
bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass sie eine Gemeinschaft für das
Kulturerbe im Sinne der Faro-Konvention (Europarat 2005a) und wir eine andere ebensolche
Gemeinschaft sind, deren kulturelle Interessen nicht immer miteinander im
Einklang stehen und zwischen denen daher – wie stets bei derartigen „Insichkonflikten“ (Krischok 2016, 135)
ein gerechter und ausgewogener Ausgleich gefunden werden muss. Kommen derartige
– jeweils für sich berechtigte, anerkennens-, schützens- und sogar
förderungswürdige – Interessen miteinander in Konflikt, muss, wo kein Mittelweg
gefunden werden kann, der beide Interessensgruppen gleichermaßen ausreichend
zufrieden stellt, manchmal die eine Interessensgruppe manche Dinge, die sie
wertschätzt, zugunsten der anderen, die anderen Male hingegen die andere manche
ihrer Werte zugunsten der einen aufgeben, d.h. auf einen Teil dessen, was sie
wertschätzt, verzichten bzw. ihn sogar verlieren. Im Geiste einer gegenseitigen
Achtung, die in modernen, demokratischen, die Menschenwürde und unverletzliche
und unveräußerliche Menschenrechte achtenden Verfassungsstaaten für ein
friedliches und gerechtes Zusammenleben erforderlich ist, ist ein solches Geben
und Nehmen in solchen Konflikten unumgänglich.
Dabei ist besonders zu beachten, dass
insbesondere die Gegenseitigkeit der Achtung von essentieller Bedeutung ist: so
wie es die Pflicht der einen Gemeinschaft ist, die andere und damit auch deren
Werte zu achten, ist es auch die Pflicht der anderen, die eine und ihre Werte
zu achten. Fordern wir ArchäologInnen und archäologische DenkmalpflegerInnen
also, dass Schatzsucher und private Sammler von Kulturgütern unsere Werte
achten und daher jene archäologischen Kulturgüter, denen wir ganz besonders
hohen Wert zuweisen, nicht durch ihr kulturelles Handeln fahrlässig oder
vorsätzlich gefährden oder gar zerstören; bedingt das im Gegenzug, dass auch
wir die Werte der Schatzsucher und privaten Sammler von Kulturgütern achten und
nicht ihre Bräuche, Darstellungen, Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten
sowie die dazu gehörigen Instrumente, Objekte, Artefakte und kulturellen Räume
durch unser kulturelles Handeln fahrlässig oder vorsätzlich gefährden oder gar
zerstören.
Ein System, wie wir es derzeit nahezu im ganzen
deutschen Sprachraum haben, bei dem die von uns als ‚böse‘ betrachteten
Schatzsucher und Privatsammler zur Achtung unserer Werte und unseres
kulturellen Erbes verpflichtet sind, während wir sie, ihre Werte und ihr kulturelles
Erbe mit absoluter Verachtung strafen dürfen, mag uns zwar gefallen und uns
nutzen, aber hat in den Gesellschaften, in denen wir leben, und deren
Verfassungsordnung, die sie sich selbst gegeben haben, keinen Platz. Es ist ein
solches System nicht mehr und nicht weniger als ein Missbrauch der Idee des
Kulturgüterschutzes zur Förderung unserer eigenen kulturellen Interessen und
Werte auf Kosten derer (wenigstens mancher) unserer MitbürgerInnen, und das ist
im höchsten Grade unethisch; selbst für ArchäologInnen, denen der Staat keine
denkmalpflegerischen Machtbefugnisse eingeräumt hat; und noch viel mehr für
staatliche DenkmalpflegerInnen, die vom Staat mit Machtbefugnissen betraut
wurden, um die vom Staat verfolgten Ziele – dem gerechten und ausgewogenen
Schutz der Interessen aller seiner BürgerInnen – zum Wohle aller zu
verwirklichen.
Will man also den Kulturgüterschutz und die
damit verbundenen Aufgaben ernstnehmen, muss man – ob es uns als ArchäologInnen
und archäologischen DenkmalpflegerInnen nun gefallen mag oder nicht – die Schatzsuche
und das private Sammeln von Kulturgütern ausmachenden Bräuche, Darstellungen,
Ausdrucksformen, Wissen und Fertigkeiten sowie die dazu gehörigen Instrumente,
Objekte, Artefakte und kulturellen Räume ebenso wertschätzen und behandeln wie
das materielle und immaterielle archäologische Kulturerbe und den herkömmlichen
archäologischen Denkmalschutz. Man muss – neuerlich ob es einem gefällt oder
nicht – das immaterielle Kulturerbe der SchatzsucherInnen und SammlerInnen
genauso achten wie das materielle und immaterielle archäologische Kulturerbe,
das uns selbst besonders am Herzen liegt. Insbesondere muss man auch dazu
bereit sein, Kompromisse einzugehen und manchmal die eigenen den kulturellen
Interessen der anderen hintanzustellen, damit auch sie selbstbestimmt am
kulturellen Leben der Gemeinschaft teilhaben können, wie sie es für richtig
halten. Nicht nur, weil es ethisch richtig ist und eine Vorbedingung für ein friedliches
soziales Zusammenleben, sondern nicht zuletzt auch, weil es für den archäologischen
Kulturgüterschutz besser ist.
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[1] Eine Machtmehrheit ist eine
gesellschaftliche (Unter-) Gruppe, die (ob nun generell oder in einem
bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens) mehr Macht hat als
andere gesellschaftliche (Unter-) Gruppen; wie z.B. politische,
wirtschaftliche, religiöse, intellektuelle etc. Eliten. Solche (Unter-) Gruppen
können und sind zumeist auch zahlenmäßig eine Minderheit in ihrer Gesellschaft,
die aber aufgrund ihrer Machtposition ihre spezifischen, partikulären Interessen
– gegebenenfalls auch gegen die Interessen der zahlenmäßigen Bevölkerungsmehrheit
– überdurchschnittlich häufig oder sogar in jedem Fall durchsetzen kann. In
demokratisch organisierten Gesellschaften ebenso wie in sogenannten
‚Vielvölkerstaaten‘ und ‚pluralistischen‘ bzw. ‚multikulturellen‘
Gesellschaften kann aber natürlich auch eine zahlenmäßige Bevölkerungsmehrheit
die Machtmehrheit darstellen. Minderheitenschutz ist streng genommen stets der
Schutz von Machtminderheiten, auch wenn er ursprünglich im Kontext des Schutzes
zahlenmäßiger Minderheiten in einer bestimmten Bevölkerung entstanden ist,
[2] Unter dem Begriff der
‚Schatzsuche‘ ist hier keineswegs nur die Suche nach wirtschaftlich wertvollen
Gegenständen im Sinne der umgangssprachlichen Bedeutung des Wortes ‚Schatz‘ zu
verstehen, sondern die Suche nach allen Sachen, die von jener Person, die nach
ihnen sucht, subjektiv wertgeschätzt werden. Auch die Suche nach wirtschaftlich
völlig wertlosen Gegenständen wie z.B. den Verschlussringen von Getränkedosen
aufgrund der persönlichen Interessen eines Einzelnen (ich kenne einen solchen
Fall) ist also eine ‚Schatzsuche‘ im Sinne dieses Beitrags, nicht nur die Suche
nach Sachen mit Geldwert.
[3] ‚Gewöhnlich‘ ist in diesem
Kontext durchaus (ab)wertend gemeint.
[4] Das gilt auch für mich: als
Archäologe ist meine Sympathie für das Hobby der Schatzsuche und des Sammelns
von Kulturgütern begrenzt. Es geht mir in Artikeln wie diesem auch nicht darum,
diese Form des Umgangs mit Kulturgütern zu verteidigen, sondern nur darum,
konsequent die Prinzipien des und gesetzlichen Bestimmungen für den (auch, aber
nicht nur archäologischen) Kulturgüterschutz, die sich daraus ergebenden
Konsequenzen für den Denkmalschutz und in ihre Implikationen für die
Denkmalpflegepraxis zu analysieren und darzustellen. Sage ich also, dass die
Schatzsuche und das Sammeln ihrerseits schützenswerte kulturelle Praktiken
sind, dann tue ich das nicht, weil ich diese Praktiken subjektiv befürworte,
sondern weil sie die Definition des immateriellen Kulturerbebegriffs des
UNESCO-Übereinkommens (2003) erfüllen und daher im Sinne dieser Konvention
schützenswertes immaterielles Kulturerbe sind. Ob mir diese Form von Kulturerbe
subjektiv gefällt oder nicht, muss dabei aber ebenso unbeachtlich bleiben wie, ob
mir der spanische Stierkampf als kulturelle Praxis oder handgemachte
Gebrauchskeramik des 5. Jh. n.Chr. aus Niederösterreich als materielles
Kulturerbe gefällt (nur der Vollständigkeit halber: nichts davon gefällt mir);
weil entweder alles kulturelle Erbe als Teil der kulturellen Vielfalt und der
menschlichen Kreativität geachtet, gefördert und auch geschützt werden muss,
egal ob es mir oder einer beliebigen Machtmehrheit gefällt, oder es keinen
Kulturgüterschutz im modernen Sinn gibt. Aber auch wenn ich für einen
konsequenten modernen Kulturgüterschutz eintrete, wie ich es in Artikeln wie
diesem tue, bin ich nicht als ‚Experte‘ zur Vertretung der kulturellen
Interessen der Schatzsucher und Sammler geeignet: obgleich ich diese
Personengruppe und ihr kulturelles Handeln wissenschaftlich untersuche, bin ich
weder selbst ein Mitglied der Schatzsucher- und Sammlergemeinschaft noch
schätze ich ihr Kulturerbe in besonderer Weise, sondern bin und bleibe
Archäologe, der Archäologie schützen will und daher voreingenommen ist.
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